In die Offensive fliegen

Skifliegen Andreas Wellinger stellt in Oberstdorf einen Schanzenrekord auf und wird Zweiter. Er und seine Teamkollegen profitieren vom ehemaligen norwegischen Weltklassespringer Roar Ljøkelsøy. Der neue Coach im deutschen Team fördert die Lust am Lernen

„Ich habe lange nicht mehr so viel Adrenalin im Körper gehabt“: Wellinger ist von seinem Sprung an der Heini-Klopfer-Schanze berauscht Foto: dpa

Aus OberstdorfKlaus-Eckhard Jost

Skispringen ist eine komplexe Sportart. Und schwer zu beschreiben. Erst wenn mehrere Faktoren zusammenpassen, gelingt ein Sprung. Dazu gehört eine kräftige Athletik des Springers beim Absprung ebenso wie ein sensibles Gefühl im Flug. Nicht außer Acht lassen darf man die Psyche des Athleten, schließlich sorgen Winde und deren Richtung für zusätzliche Überraschungsmomente. Noch ein wenig extremer wird dies beim Skifliegen.

Bei Andreas Wellinger hat beim Weltcup auf der umgebauten Heini-Klopfer-Schanze in Oberstdorf alles zusammengepasst. Auf 234,5 Meter war der 21-Jährige hinuntergesegelt. Danach hatte er ein ganz breites Grinsen im Gesicht. Kein Wunder, das ist die Faszination Skifliegen. „Ich habe lange nicht mehr so viel Adrenalin im Körper gehabt wie nach diesem Sprung. Es war grandios“, sagte Wellinger. „Ich bin heute echt cool gesprungen.“ Mit dem zweiten Platz wurde diese Flugschau am Samstag belohnt. Auch Markus Eisenbichler als Achter und Richard Freitag auf Platz zehn legten Beweis ihrer momentanen Stärke ab.

Einen Teil zu dieser Flug-Stärke hat auch Roar Ljøkelsøy beigetragen. Der Norweger war vor der Saison ins deutsche Team als Trainer gekommen. Der Bundestrainer hatte die Verpflichtung des 40-Jährigen als „einen kreativen Moment“ bezeichnet. Denn das Wort des ehemaligen Weltklassespringers hat Gewicht. Immerhin ist der Mann aus Trondheim vierfacher Skiflug-Weltmeister. „Roar hat sehr gute Ansätze“, lobt Eisenbichler, „ich habe heute definitiv davon profitieren können.“ Wie dieser Tipp aussah? „Ich soll unten mehr Spannung halten, etwas gieriger sein“, sagt der Bayer.

Ljøkelsøy, der seit seinem Rücktritt 2010 als Nachwuchstrainer gearbeitet hat, verfolgt wie Bundestrainer Schuster einen ganzheitlichen Ansatz. Neben den objektiven Daten fragt er die Athleten immer wieder nach ihrem Gefühl. „Mein Ziel ist es, dass die Springer selbst nachdenken und auch mitdenken“, sagt der Coach, „wie sie zu einer Lösung kommen.“ Er wolle motivieren, dass die Athleten immer mehr über das Skispringen lernen wollten.

Grundsätzlich hat Ljøkelsøy einige kleinere Unterschiede in der Philosophie ausgemacht. „Wir Norweger können den Wind gut ausnutzen und fliegen gerne weiter“, vergleicht er. Und stellt ein kleines Manko fest: „Die deutschen Springer müssen noch offensiver und aggressiver springen, müssen in jeder Situation attackieren.“

„Mein Ziel ist es,dass die Springer selbst nachdenken“

Trainer Roar Ljøkelsøy

Die Steigerung seiner Mannschaft beim Skifliegen will Cheftrainer Schuster nicht nur auf die Verpflichtung des Jungtrainers aus Norwegen zurückführen. „So einfach geht’s nicht“, sagt der Chef, „man kann sich nicht einen ehemaligen Skiflug-Weltmeister ins Team holen, der dann die Hand auflegt, und auf einmal kann man besser Skifliegen.“ Dabei denkt er in erster Linie an die Stimmung innerhalb seines Trainerstabs, wenn er anfügt, dass alle Korrekturen abgestimmt seien. Aber er gibt auch zu: „Manchmal sagt ein anderer in einer anderen Sprache das Gleiche, aber es kommt anders rüber.“ Das ist gezielt auf Ljøkelsøy gemünzt, der aufgrund seines Charakters als Ruhepol im Team fungiert und mit den Springern nur Englisch sprechen kann. Schuster zieht daher als Fazit: „Dann ist auch schon gewonnen.“

Wie’s in der täglichen Arbeit abläuft, davon kann Richard Freitag am besten berichten, denn er trainiert häufig mit Ljøkelsøy. „Man tauscht sich aus, wie es bei ihm früher war“, erzählt der Springer aus dem Erzgebirge, „man kann sich den ein oder anderen Tipp mitnehmen, um die Flugphase, die sehr entscheidend ist, ein wenig zu verbessern.“ Was immer so leicht klinge, weil jedermann denke, beim Fliegen auf Weiten jenseits der 200 Meter gebe es genügend Zeit, das sei sehr tricky umzusetzen. Deshalb lautet sein Fazit: „Ja, Roar hilft schon sehr.“

Hellhörig geworden sind auch die Konkurrenten. Der Weltcup-Führende Kamil Stoch, am Samstag Dritter, rückte bei der Sieger-Pressekonferenz einen Platz näher zu Andreas Wellinger und fragte nach dessen Flug auf 234,5 Meter: „Andy, wie hast du das im ersten Sprung gemacht?“ Der antwortete lediglich mit einem breiten Grinsen.