Die Regeln des Spiels

AUS BERLIN KLAUS JANSEN

Den „Schlecker“ im Haus nebenan hat der bärtige Mann gleich als Erstes ausgemacht. „Guck mal Hüseyin, da bekommst du eine Zahnbürste, wenn du deine vergessen hast.“ Axel Troost schüttelt sich vor Lachen, und Hüseyin grinst. Der erste Kalauer der neuen Wohngemeinschaft ging auf seine Kosten. Macht nichts.

Axel Troost und Hüseyin Aydin sind neu in Berlin. Sie sind auf Wohnungssuche, gemeinsam mit ihrem weißhaarigen Kollegen Werner Dreibus. Die drei sind frisch gewählte Bundestagsabgeordnete und Mitglieder der WASG. Dreibus ist 57, Troost 51, Aydin 42 Jahre alt, drei freundliche Herren auf dem Weg in die große Politik. „Sie wissen, dass eine WG mit einer Ehe zu vergleichen ist?“, fragt die Maklerin, die durch eine Sechs-Zimmer-Parkettboden-Wohnung in der Nähe der schicken Berliner Friedrichstraße führt. Sie wissen es nicht, WG-Erfahrung fehlt allen. Aber Aydin sagt, er habe schon oft in einem Zelt geschlafen. Der Duisburger IG-Metall-Funktionär hat als Betriebsrat bei ThyssenKrupp Ausflüge für Jugendgruppen des Betriebs organisiert.

Aydin hat schon vor seiner Ankunft in Berlin für Schlagzeilen gesorgt. In einem Interview hatte der Ex-Sozialdemokrat angekündigt, dass er Gerhard Schröder bei einer möglichen Stichwahl gegen Angela Merkel seine Stimme geben würde – weil das „besser für die Arbeitnehmer“ ist. Drei weitere Abgeordnete haben sich ähnlich geäußert. Die Neuparlamentarier stellten die Frage, die für die Linkspartei in der kommenden Legislaturperiode zentral sein wird: Setzt man auf Fundamentalopposition oder sucht man mittelfristig ein Bündnis mit SPD und Grünen?

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In einem spartanisch eingerichteten Besprechungszimmer im Karl-Liebknecht-Haus sitzt Bodo Ramelow und sagt mit sanfter Ironie, dass Aydins Offerte an die SPD „pädagogisch wertvoll“ gewesen sei. Ramelow hat den Wahlkampf der Linkspartei koordiniert und sorgt nun aus der Parteizentrale für Disziplin in der neuen Fraktion. Er hat Aydin und seine Kollegen zurückgepfiffen. Böse ist er ihnen nicht, aber alle in der Fraktion müssten lernen, dass im Berliner Medienbetrieb jeder Halbsatz für Schlagzeilen sorgen kann. „Da muss jeder aufpassen, nicht den Clown zu geben. Es gibt schnell einen Küblböck-Effekt, wenn man sich zu allem und jedem äußert“, sagt er. Deshalb hat die Linkspartei ein „Frühwarnsystem“ eingerichtet: „Wer Presseanfragen bekommt, die einem komisch vorkommen, soll mit den Parteizentralen Rücksprache halten.“ Das sei keine Bevormundung, sagt Ramelow – sondern „Professionalisierung“.

Es ist nicht so, dass Ramelow ein Bündnis mit der SPD und den Grünen verteufelt. Er denkt in dieser Frage wie Gregor Gysi und sein Parteichef Lothar Bisky: Die Öffnung der PDS zur Mitte ist das strategische Ziel, die Verwirklichung des Traums von der regierungsfähigen gesamtdeutschen Linken. Nur kann er das jetzt nicht so laut sagen. Zum einen, weil die Linkspartei gegen Rot-Grün Wahlkampf gemacht hat und es die Wähler nicht verzeihen würde, wenn das der Partei schon zwei Wochen nach der Wahl völlig egal wäre. Und wohl auch, weil es sich gegen eine große Koalition bequem opponieren lässt.

Aydin hat diese Botschaft verstanden. „Es geht um Inhalte, und die SPD wird sich nicht bewegen“, sagt er auf der Taxifahrt zur nächsten Wohnungsbesichtigung. Sein Mitbewohner Dreibus assistiert: „Kein Kompromiss vor dem zweiten Warnstreik.“ Das hat er gelernt, auch er ist Gewerkschafter. „Parlamentarische Arbeit sind viele von uns gar nicht gewohnt“, sagt er.

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Anders als die erfahrenen früheren PDS-Politiker in der neuen Fraktion müssen die WASGler ihre Rolle in der Bundespolitik noch finden. „Natürlich unterstützen wir Schröder nicht“, sagt der Parteivorsitzende Thomas Händel am Telefon und legt auf. Dreißig Sekunden später ruft er wieder an und sagt: „Mit einem Kanzler Wowereit könnten wir natürlich besser leben.“ So ganz können die Neuen der Versuchung nicht widerstehen, im Spiel der Großen mitzuzocken. Das macht sie unberechenbar. Händel sagt: „Wir müssen uns die Spielregeln aneignen.“

Thomas Händel wird in der Berliner Links-WG ein Gästezimmer bekommen. „Der Thomas ist ein hervorragender Koch“, sagt Troost. Händel hat zwar kein Bundestagsmandat bekommen, wird aber trotzdem an den Sitzungen der neuen Fraktion teilnehmen. Er soll die Parteizentrale leiten, die die WASG in den nächsten Wochen in Berlin eröffnen wird. Vorbei sein sollen die Zeiten, in denen die WASG von einem kleinen Büro in Fürth geführt wurde. Zur Linkspartei ins Karl-Liebknecht-Haus zu ziehen, kam nicht in Frage. Eigenständigkeit ist wichtig.

Ohnehin befürchten viele WASGler, dass sich mit dem Einzug in den Bundestag die Kräfteverhältnisse zwischen Partei und Fraktion verschieben werden. „Wir müssen aus dem Stand einen mittelständischen Betrieb aufbauen“, sagt Bodo Ramelow. Den sechs Mitarbeitern der WASG-Parteizentrale wird ein 250-köpfiger Stab an Wissenschaftlern und Verwaltungskräften der gemeinsamen Fraktion mit der Linkspartei rund um den Bundestag zur Verfügung, aber auch entgegen stehen. Und: Die Fraktionsmitarbeiter, das ist jetzt schon klar, werden hauptsächlich aus dem Umfeld der Linkspartei kommen. Als die damalige PDS-Fraktion nach den für sie desaströsen Bundestagswahlen des Jahres 2002 zu einem Frauenduo zusammengeschrumpft war, nahm sie einen kleinen Apparat mit. Einige Mitarbeiter wurden bei parteinahen Organisationen wie dem Neuen Deutschland oder der Rosa-Luxemburg-Stiftung geparkt. Viele von ihnen werden zurückkommen.

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Vor einem rot gestrichenen Haus in der Oranienburger Straße werden Dreibus, Troost und Aydin nicht von einer Maklerin, sondern vom Architekten und Besitzer höchstpersönlich empfangen. Er referiert über die Geschichte des Hauses, die Finessen des Brandschutzes und darüber, dass sein Wohnungskonzept auf „schönes Leben“ angelegt sei. Eine Dachterrasse und der Blick auf die Museumsinsel unterstreichen das. Wie viel das Schöne kostet haben Dreibus und Aydin nicht gefragt. „Das macht der Axel. Der will ja unser Sprecher für Finanzen werden.“

Genau genommen würde der Ökonom Troost gerne die Stimme der Linkspartei in den Bereichen Steuern, Finanzen und am liebsten auch Wirtschaft werden. Er weiß nur noch nicht, welche Politikfelder in welchem Parlamentsausschuss zusammengefasst werden. Und noch ist unklar, ob er den Job auch bekommt: Erst an diesem Wochenende will die Fraktion auf einer Klausurtagung in Berlin-Schmöckwitz über die Verteilung der Sprecherposten entscheiden. Es gibt zu viele Ansprüche auf zu wenige Posten. Die WASG fordert Einfluss, die Frauen der Linkspartei auch. Einige werden enttäuscht sein.

Aydin will keinen Posten. Zunächst nur eine schöne Küche. „Ich will Platz, ich muss mich bewegen können“, sagt er. Und in der Fraktion? „Da stelle ich mich hinten an und gucke mal, wo ich mich engagieren kann.“ WG-Genosse Dreibus hat konkretere Ideen: Ein Büro für den Kontakt zu sozialen Bewegungen außerhalb des Parlaments würde er gerne eröffnen, gemeinsam mit Katja Kipping von der Linkspartei. Dreibus ist aktiv bei den Naturfreunden, Kipping hat bis jetzt als Fraktionschefin im sächsischen Landtag die NPD bekämpft. Sie ist 27 Jahren alt – so alt wie seine Tochter. „So kann sich einer von uns um die alten und einer um die neuen sozialen Bewegungen kümmern“, sagt er. Er meint: Ostdeutsche Junglinke und westdeutsche Gewerkschafter, das kann sehr wohl zusammenwachsen.

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Der Weg zur Regierungspartei wird über die Länder gehen. „Die deutsche Linke kann den Bundesrat nur mit uns zurückerobern“, sagt Bodo Ramelow. Rot-Rot und Rot-Rot-Grün soll in den Landtagen ausprobiert werden, im März wählen Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Und zum Ende der Legislaturperiode könnte die Linke dann auf Bundesebene so weit sein, hofft Bodo Ramelow. Vielleicht sogar schon in zwei oder drei Jahren: Sollte dann die große Koalition platzen, will seine Fraktion ihre Vorschläge neu auf den Tisch legen. Mindestlohn, weg mit Hartz IV, deutsche Soldaten raus aus Afghanistan. „Wenn man das mit der SPD in einer angebrochenen Legislaturperiode umsetzen kann, verschließen wir uns nicht.“ Nur müsste die SPD bis dahin „wieder sozialdemokratisch werden“, wie es der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi formuliert. Dass Gysi darauf hofft, ist kein Geheimnis: „Wenn es eine veränderungsfähige Partei gibt, dann die SPD“, hat er gleich nach der Wahl gesagt.

Doch nicht nur die SPD muss sich bis dahin verändern. Linkspartei und WASG müssen zuerst eine gemeinsame Partei werden. „Ohne eine einheitliche Parteistruktur über Regierungsverantwortung zu reden, ist Harakiri“, sagt Bodo Ramelow. Und eine geordnete Struktur hat noch nicht einmal die WASG als Einzelpartei. Denn obwohl der vierköpfige Parteivorstand für zwei Jahre gewählt ist, könnte er schon im Februar ausgetauscht werden. Die Basis pocht darauf, dass Troost und Klaus Ernst die Trennung von Amt und Mandat einhalten und ihre Vorstandsposten nach der Wahl in den Bundestag niederlegen. Außerdem sind die Folgen des rasanten Mitgliederzuwaches der vergangenen Monate zu spüren: Die jetzige Parteiführung ist von gerade mal einem Drittel der WASGler legitimiert.

Landtagswahlen, Vorstandswahlen, Fusion – die Linke hat in den kommenden Jahren neben der Oppositionsarbeit vor allem mit sich selbst zu tun. Den Abgeordneten Aydin, Dreibus und Troost fehlt noch eine Wohnung in Berlin. Aber das wird sich bald ändern. Dieses Wochenende wollen sie noch einmal durch die Stadt streifen. Weiter suchen.