Grüße zur 150. Montagsdemo

von Christine Prayon

Jubiläen sind so eine Sache. Darf man beim Jubiläum sagen: „Mutter, du wirst heut achtzig. Machen wir uns nichts vor, das ist eine stramme Zahl. Aber an sich noch keine Leistung. Ich würde dir gerne zur tollen Karriere, zu deinem außergewöhnlichen sozialen Engagement oder zu vier wohlerzogenen Kindern gratulieren. Wenn davon bloß etwas zutreffen würde.“

Es ist also so eine Sache mit Jubiläen. Auf Jubiläen muss eben jubiliert werden. Das liegt in der Natur dieser Sache, denn wollte man kritisieren, wäre es ja kein Jubiläum, sondern ein Kritikäum. Oder ein Schmähum. Oder ein Die-Wahrheit-ins-Gesicht-Sagum.

„Frau Prayon, möchten Sie nicht etwas Passendes zur 150. Montagsdemo beitragen?“

Na großartig. Von Berufs wegen Lästermaul, bekomme ich bei der Vorstellung, zwangsjubilieren zu müssen, innerlich Ausschläge, quasi Pickel im Hirn.

150 Montagsdemos. Da MUSS ich doch ein Hohes Lied auf den Widerstand singen. Da ist es doch geradezu meine kabarettistische und zornbürgerliche Pflicht, die Versäumnisse der Politik anzuprangern und die Zunge über DIE DA OBEN zu wetzen. Ein paar böse Zeilen über die Grünen, jawoll, so was wie: Eine gegrillte Paprika mag von oben grün aussehen, doch wendet man sie, ist sie schwarz wie die Nacht.

Aber irgendwie kriege ich das von mir Erwartete ums Verrecken nicht über die Lippen. Das überrascht mich nicht. Wer bei Beerdigungen Lachanfälle bekommt, lässt selbstverständlich auch bei Jubiläen die notwendige Feierlichkeit vermissen.

Und so muss ich an Loriot denken. Ich möchte mir eine hochgeknöpfte Bluse anziehen und eine selbst gebastelte „150“ aus Alufolie ins Haar stecken, die mir im Laufe der Rede jubiläumsunwürdig verrutscht, durch eine ungeschickte Handbewegung ihre „1“ und ihre „5“ verliert, sodass nur noch eine silberne Null auf meinem Kopf thront und meine Rede in einen unfreiwillig komischen Kontext stellt. Meine Stimme versucht, angemessen zu klingen, als ich das sorgfältig vorbereitete Jubiläumsvokabular aufsage:

Unglaublich, aber echt real,die Demo gibt's schon 150 Mal!Ob Regen, Wind, ob Sonnenschein,Gangolf stand hier nie allein.Mal war'n Grüne mit dabei(mal bei uns, mal bei der Polizei).Immer waren wir im Recht,wir sind halt gut, die andern schlecht.Drum lasst uns feiern und uns loben,denn wer feiert, der bleibt oben!

An dieser Stelle muss jetzt die Kapelle einsetzen, und Hannes wirft kleine Stofflöwen mit Latzhosen in die Menge. Die Stofflöwen sind aus Stoff, die Latzhosen aus Latz, und auf den Latzhosen der Stofflöwen steht: „150 und koi bissle leiser!“ Für diese Aktion wird Hannes nachher von der Staatsanwaltschaft wegen öffentlicher Beleidigung von Löwen verfolgt und zu einem Bußgeld in Höhe von 4,5 Milliarden Euro verurteilt, welches er aus formalbürokratischen Gründen direkt an die Bahn überweisen soll. Die Presse wird schreiben: „Auf der 150. Montagsdemo, zu der niemand kam, weil der Protest gegen Stuttgart 21 tot ist, randalierte Stadtrat Hans Roggenbaum und verletzte mindestens 3.000 Demonstranten.“

Ach, wäre es doch die hundertneunundvierzigste Demo. Oder die hunderteinundfünfzigste. Da könnte ich ganz ohne Jubiläumsschnörkel sagen, wie sehr ich mich über diese Protestbewegung schon gefreut und wie sehr ich mich geärgert habe, was diese Bewegung alles losgetreten und wo sie sich selbst gelähmt hat, wie weitsichtig und wie blind sie schon war. „Frau Prayon, es isch Demo 150. Wir bräuchten da was Optimischtisches. Bitte keine Selbschtkridik.“ Tut mir leid. Das kann ich nicht. Den größten Optimismus entwickle ich immer dann, wenn ich mir mein Scheitern eingestehe, die Fehler erkenne und versuche, es in Zukunft anders zu machen. Ein fröhlich geschmettertes „Vorbei ist vorbei – jetzt schauen wir nach vorn“ macht mich eher ratlos.

Ach, wäre es doch die hundertzweiundsiebzigste oder die hundertachtundneunzigste Demo. Guten Gewissens könnte ich das wohlfeile Politiker-Bashing weglassen. Nicht weil jene es nicht verdient hätten, sondern weil mir meine Zeit dafür zu schade ist. Kein Politiker der Welt wird es uns richten. Die Kretschmanns und die Obamas sorgen lediglich für etwas mehr „Beinfreiheit“ als die Romneys und die Mappussis. Wer die Beinfreiheit allerdings lieber nutzt, um nach Politikern zu treten, statt sein Glück selber in die Beine zu nehmen, der holt sich meist nur blaue Flecken.

Es ist die 150. Demo, und da sind nun mal große Worte angesagt. Die kommen jetzt auch – und zwar ohne Ironie und doppelten Boden: Meinen Respekt für all die Wackeren, Unerschrockenen, Unermüdlichen, für alle Zornigen, Mutigen, aufgeklärt Engagierten, die Braven UND die Ungehorsamen, die seit nunmehr über drei Jahren, sommers wie winters, bei Wolkenbrüchen, brennender Sonne, beißendem Frost (trotz Sprühregens, Shitstürmen und eisigem Gegenwind), kurz: IMMER geduldig jeglicher Rede hier lauschten. Meinen Respekt für ihr lautstarkes Erscheinen seit 150 Montagsdemonstrationen (auch wenn die Medien das meist nicht wahrhaben wollten und lieber verschwiegen). Meinen Respekt und meinen Dank also dafür, 150 Mal ein deutliches Zeichen gesetzt zu haben, wem diese Stadt – wenn überhaupt – wirklich gehört.

Christine Prayon, 1974 in Bonn geboren, lebt in Stuttgart und ist Schauspielerin und Kabarettistin. Sie ist unter anderem mit dem Deutschen Kleinkunstpreis, dem Deutschen Kabarettpreis und dem Prix Pantheon ausgezeichnet worden.