„Eine Art Gotteslästerung“

WEIHNACHTSROMANTIK Die Kerze war der Kirche anfangs gar nicht geheuer, weil sie die Leute vom Tag-Nacht-Rhythmus unabhängig machte. Im Kirchenraum selbst dagegen galt sie als Symbol des göttlichen Lichts, sagt Torkild Hinrichsen, Chef des Altonaer Museums

■ 64, Archäologe, und Kunsthistoriker, ist seit 2008 wissenschaftlicher Direktor des Altonaer Museums.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Hinrichsen, war die Erfindung der Kerze eine Revolution?

Torkild Hinrichsen: Letzten Endes ja. Denn die Existenz künstlichen Lichts bedeutet ja, dass der Mensch auch im Dunklen sehen und arbeiten kann, sich also vom Hell-Dunkel-Rhythmus emanzipiert.

Der ja im Mittelalter als gottgegeben galt. Wie stand die Kirche damals zur Kerze?

Ambivalent. Eigentlich war das Entzünden von Kerzen, weil es den natürlichen Tag-Nacht-Prozess durchbrach, eine Art von Gotteslästerung. Das galt aber nur für die kleinen Leute. Für Adel und Kirchenleute war es eine Frage des Prestiges, sich Wachskerzen leisten zu können. Und die Deutung der Kerze kehrte sich im Kirchenraum sogar ins Gegenteil. Da galt die Kerze als Symbol des göttlichen Lichts, auf dem ja der gesamte christliche Kultus basiert. Man denke nur daran, das jede Kirche gen Sonnenaufgang, also nach Osten, gerichtet ist und sogar die Toten so begraben werden, dass sie sich, wenn der Jüngste Tag beginnt, nur noch aufrichten müssen, um ins göttliche Licht, also nach Osten zu schauen. Denn es gibt ja die Hoffnung, dass uns am Jüngsten Tag Christus als wahre Sonne erscheint und wir lichtgebadet ins Paradies kommen.

Seit wann gibt es Kerzen?

Schon sehr lange. In der Steinzeit gab es wohl noch keine, aber in der Eisenzeit ganz bestimmt. Ich denke, Kerzen werden seit 2.000 Jahren hergestellt. Es ist nur die Frage, woraus sie bestehen.

Nämlich?

Im Grunde kann man jedes Fett, das man zum Härten bringen kann, dafür benutzen, und ursprünglich wurden Kerzen aus Talg oder Walrat gemacht. Das waren die Dinge, die zur Verfügung standen. Nur die Kirche und die Adligen konnten sich Kerzen aus Bienenwachs leisten, der unglaublich teuer war.

Warum?

Weil man ursprünglich Wachs von Wildbienen verwandte und erst später Bienen und also Wachs gezielt züchtete. Und da die Kirchen, Klöster und Adligen Waldbesitzer und damit an der Quelle waren, beschäftigten sie Angestellte, die den wilden Wachs fingen. Erst im hohen Mittelalter, als Macht und Kerzenbedarf der Kirche deutlich stiegen, schaffte man es, Bienen gezielt zu fangen und zu halten. Auch der Deutschritterorden, der eine ausgesprochene Honig- und Honigkuchenkultur hatte, besaß große Wälder mit eigens angestellten Leuten, die Wachs und Honig ernteten.

Und wer stellte die Kerzen her?

Als das Wachs noch ausschließlich von Bienen stammte, waren es die Wachszieher. Sie arbeiteten Hand in Hand mit den Konditoren bzw. Lebzeltern, die das andere Bienenprodukt, den Honig, verarbeiteten. Oft waren die Wachszieher auch Lebzelter. Sie beherrschten ursprünglich die gesamte Wachs-Industrie. Heute gibt es nur noch wenige von ihnen. Sie sitzen im süddeutschen Raum sowie in Österreich und der Schweiz und stellen Wachskerzen und Honigkuchen her.

Warum war Wachs das edlere Kerzenmaterial?

Weil die preisgünstigeren Talg- oder Unschlittkerzen aus Rindernierenfett oder Hammeltalg nicht nur ranzig rochen, sondern auch fürchterlich rußten und ständig geputzt werden mussten. Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert, als man Stearin und Paraffin entdeckte, die dafür sorgten, dass eine Kerze gleichmäßig und sauber abbrannte.

Wann kam die Massenproduktion von Kerzen auf?

Als man zu anderem Material überging, das heißt: in dem Moment, in dem die chemische Industrie es schaffte, den Talg so aufzuspalten, dass daraus mehrere verschiedene Fettstoffe entstehen, und man hieraus durch einen chemischen Prozess etwas gewann, das kontinuierlicher brannte und weniger rußte. Das war, um 1840, das Stearin. Zehn Jahre danach kam das Paraffin auf, und diese beiden künstlichen Stoffe konnte man auch vermengen. Dann brannte es erstens länger und zweitens hatte der daraus gewonnene Stoff einen höheren Schmelzpunkt, sodass sich die Kerze nicht verbog. Und mit der Massenherstellung gab es so etwas wie Demokratisierung – wie übrigens auch beim Weihnachtsbaum, der erst in den 1870er-Jahren Massengut wurde, als die Schienennetze der Eisenbahn ausgebaut wurden.

Wann kam die elektrische Kerze auf?

In der zweiten Hälfte der 20er-Jahre.

Kam sie gut an?

Es war zunächst derselbe Effekt wie bei den Bienenwachskerzen: Sie waren anfangs extrem teuer. Elektrische Kerzenbeleuchtung war das neue Prestigesymbol.

Haben Sie zu Hause echte Kerzen am Weihnachtsbaum?

Ja, und wir zünden sie nur ein einziges Mal an. Wir lassen sie runterbrennen, und dann sind sie weg.

Warum nur einmal?

Weil wir das intensiv und bewusst erleben wollen. Der Baum mit den Kerzen soll ja nicht als unbeachtete Beleuchtungslampe da herumstehen.