„Ich will meinen Sohn zurück“

AUS MEFTAH REINER WANDLER

Gütig schaut Abdelasis Bouteflika auf den Marktplatz von Meftah herab. Die Arme ausgebreitet, als wolle er sein ganzes Land umarmen, ist der algerische Präsident auf dem riesigen Plakat abgebildet, hier, 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier. Den Hintergrund zieren die algerischen Nationalfarben Grün und Weiß. „Ja für Algerien!“ ist in großen Lettern zu lesen.

Es ist ein Aufruf, heute für die „Charta für Frieden und nationale Aussöhnung“ zu stimmen. Wird sie angenommen, erlässt Bouteflika eine Generalamnestie für die Mitglieder bewaffneter islamistischer Gruppen sowie für Polizisten, Soldaten und Geheimdienstler, die im mehr als zehn Jahren andauernden blutigen Konflikt zwischen Staat und radikalen Islamisten Gewalttaten verübt haben. Die „blutige Tragödie“ (siehe Kasten) solle endgültig abgehakt werden, verspricht der Staatschef. Die Angehörigen der Opfer dieser Menschenrechtsverletzungen durch Armee und Polizei warten bis heute auf Gerechtigkeit.

„Frieden? Aussöhnung? Amnestie?“ Mohamed Boucedraia, der hier in Meftah lebt, antwortet auf die Frage, was er von der Abstimmung hält: „Ich will nur eines: Ich will meinen Sohn zurück. Und wenn ich bis an mein Lebensende dafür kämpfen muss.“ Dann beginnt der 80-jährige Mann zu erzählen.

Razzia im Todesdreieck

An jenem 24. April 1994 geschah, was der Veteran des antikolonialen Befreiungskrieges gegen Frankreich nie für möglich gehalten hätte: Am helllichten Tag zerrten Soldaten der Volksarmee des Staates, für den er einst jahrelang gekämpft hatte, seinen 30-jährigen Sohn Mustafa in einen Jeep. Seither hat der Alte nichts mehr von ihm gehört. Überall hat er nachgeforscht. Vergebens. „Und das, obwohl ich einen der Uniformierten später wiedererkannt habe“, mischt sich sein zweitältester Sohn Mazrek ein, der daneben steht. Die Soldaten, weiß er, gehörten zu einer bei Meftah stationierten Fallschirmspringer-Einheit der algerischen Armee.

„Knapp hundert Familien hier im Ort erging es ähnlich wie uns“, berichtet Mazrek, der im Erdgeschoss des Elternhauses ein Lebensmittelgeschäft betreibt. Immer wieder kamen damals die Soldaten oder Gendarmen und nahmen einfach irgendjemanden mit. Der tauchte dann nie wieder auf. „Es waren harte Jahre.“

Anders als die meisten Algerier redet Mazrek nicht von „Ereignissen“, wenn er über den blutigen Konflikt zwischen Islamisten und Staat spricht, der Algerien 1992 nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen und dem Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS) erschüttert hat. Mazrek spricht von „Krieg“.

Seine Heimatstadt Meftah liegt im „Todesdreieck“, so taufte die Presse die fruchtbare Mitiya-Ebene nahe der Hauptstadt. Hier hatte die FIS – wie vielerorts im Lande – 1992 die Wahl haushoch gewonnen. Auch die Boucedraias stimmten damals „wie neunzig Prozent in Meftah“ für die Islamisten. Die Wahlen wurden schließlich abgebrochen, die siegreiche FIS verboten. Das Militär übernahm die Macht, 35.000 Islamisten wurden in Konzentrationslager in der Sahara verschleppt.

Der gewaltsame Widerstand ließ nicht auf sich warten. Polizei und Armee wiederum reagierten mit Repression. Willkürliche Verhaftungen, selbst Erschießungen bei Razzien waren fortan an der Tagesordnung. „Und eines der Opfer war unser Mustafa, ein einfacher Landarbeiter“, klagt Mazrek. Sein Bruder habe nie etwas getan, betont der junge Mann unter dem zustimmenden Blick seines Vaters immer wieder.

Verwirrung und Brutalität

„Es war die Angst vor willkürlicher Verhaftung und Folter, die viele in den Untergrund getrieben hat“, zeigt Mazrek dennoch Verständnis für die damals entstandenen bewaffneten Gruppen, die schon bald einen blutigen Kampf begannen. Polizisten, Soldaten und Staatsbeamte wurden auf offener Straße erschossen. In Meftah wurden sowohl auf die Backsteinfabrik als auch das örtliche Kommissariat Bombenanschläge verübt. Die Lage wurde immer verworrener, die Razzien der Armee immer brutaler. Bald schon gab es Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Untergrundgruppen.

Selbst die Zivilbevölkerung wurde Opfer barbarischer Massaker. Sidi Hamad, Sidi Moussa, Rais, Bentalha sind nur einige der Orte, die unter den Augen der Armee überfallen wurden. „Hunderte Opfer“, lautete jedes Mal die blutige Bilanz. Vom Staat ausgerüstete bewaffnete „Selbstverteidigungsgruppen“ führten ihrerseits Strafexpeditionen gegen Familien durch, die ihrer Ansicht nach die Terroristen unterstützten. Armee und Geheimdienste spielten dabei ihr undurchschaubares Spiel. Wer hat wen getötet?, lautete die Frage der Menschenrechtsorganisationen, die bis heute nicht beantwortet ist.

„Einer von denen, die in den Untergrund gegangen sind, war mein Sohn“, mischt sich ein Nachbar ein. Als Ali Muslimi stellt sich der groß gewachsene Mann vor, den es jetzt drängt zu reden. „1993, mit 26 Jahren, ging Abdelkader in die Berge.“ Dem heute 61-jährigen Landarbeiter fällt es nicht leicht, darüber zu reden – er fühlt sich schuldig. „Ich habe meinen Sohn damals überredet zurückzukommen.“ Die Regierung hatte die Väter aufgefordert, ihre Söhne zur Umkehr zu bewegen. Abdelkader lenkte ein. Er sagte sich vom bewaffneten Kampf los, kehrte zurück nach Meftah, begann zu arbeiten und heiratete.

Wenige Monate später war das friedliche Leben zu Ende. „Abdelkader wurde verhaftet und in eine Kaserne gebracht“, berichtet Muslimi. Wenige Tage später erhielt der besorgte Vater die Nachricht, sein Sohn sei am 12. Mai 1994 um 9.30 Uhr morgens verstorben. Woran, stand da nicht geschrieben. „Sie haben ihn gefoltert und dann erschossen“, will Muslimi erfahren haben. Bis heute weiß er nicht, was mit Abdelkaders Leichnam geschehen ist.

„Wir haben viele Menschen verloren“, mischt sich Mazrek wieder ein, „völlig umsonst.“ 150.000 Tote und 6.146 Verschwundene lauten die offiziellen Opferzahlen. 200.000 Tote und bis zu 20.000 Verschwundene, sagen unabhängige Quellen.

Mazrek spürt nach all dem Grauen noch immer Angst und Misstrauen gegen seinen Staat. Doch er wünscht sich auch, dass endlich alles vorbei sein möge. Deshalb ist er sich, anders als sein Vater, ganz sicher: „Ich gehe zur Abstimmung.“ Mit Ja werde er die Frage, ob er die Charta unterstütze, beantworten. „Vielleicht werden sie uns danach endlich sagen, was mit meinem Bruder Mustafa passiert ist“, hofft Mazrek. Sein Nachbar Muslimi pflichtet ihm bei. Er hätte wenigstens gern ein Grab, wo er Abdelkader beweinen kann.

„Aber genau das soll doch mit der Charta verhindert werden“, ist sich Hasan Ferhati sicher. Der 40-jährige Taxifahrer aus Algier ist Vorstandssprecher von SOS Disparus (SOS Verschwundene). Die bis heute von den Behörden nicht zugelassene Vereinigung vertritt die Interessen von Angehörigen Verschwundener. Bouteflikas Projekt ist für ihn nichts als ein groß angelegtes Täuschungsmanöver, um die Soldaten und Polizisten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeordnet oder begangen haben, reinzuwaschen. Denn eine Amnestie für die ehemaligen Untergrundkämpfer braucht es nicht mehr. Die wurde schon vor fünf Jahren von Bouteflika mit dem „Gesetz zur zivilen Eintracht“ gewährt. Die meisten Kämpfer kehrten danach ins zivile Leben zurück. Etwa 800 soll es nach Angaben des Innenministeriums noch in den Bergen geben. Einst waren es Tausende.

„Zuerst die Wahrheit!“

„Das Kapitel der Verschwundenen und andere Menschenrechtsverletzungen soll beendet werden, ohne jemals die Wahrheit aufzudecken und die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen“, wirft Ferhati dem Präsidenten vor. Der SOS-Disparus-Sprecher hat selbst zwei Brüder verloren. Einer wurde von der Polizei erschossen, der andere vom Geheimdienst verschleppt. „Natürlich sind auch wir für Frieden und Aussöhnung“, sagt er. „Aber dazu müssen wir zuerst die Wahrheit kennen. Und es müssen die bestraft werden, die ein Verbrechen begangen haben.“ SOS Disparus und andere Menschenrechtsorganisationen rufen deshalb auf, mit Nein zu stimmen.

„Aber mit unserer Meinung erreichen wir die Bevölkerung kaum“, beschwert sich Ferhati. In Funk und Fernsehen werden keine kritischen Stimmen zugelassen, Veranstaltungen für das Nein werden nicht genehmigt, Flugblattverteiler immer wieder verhaftet. „Wir wissen nicht, wie es mit unserer Organisation nach dem Referendum weitergeht“, sagt Hasan Ferhati. Er befürchtet das Schlimmste.

Den festgenommenen Vertretern seiner Organisation wird schon jetzt vorgeworfen, mit ihren Pamphleten gegen das Vergessen „den Interessen des Staates geschadet zu haben“.