Beste Lesung wo gibt

Ortstermin Im Berliner Festsaal Kreuzberg lesen Kolleginnen und Kollegen von Deniz Yücel Texte des Autors. Es ist voll, es ist lustig – und manchmal fließen Tränen

Den Einspruch gegen den Haftbefehl lehnte das Istanbuler Gericht am Mittwoch ab Foto: Gregor Fischer/dpa

von Elisabeth Kimmerle

Wer hätte gedacht, dass an diesem Abend noch so gelacht wird? Denn der Anlass, zu dem sich an diesem Abend mehr als 800 Leute in den Festsaal Kreuzberg drängen, während die Schlange derer, die noch reinwollen, bis zur Straße reicht, ist ein denkbar trauriger.

Seit vier Wochen sitzt der Journalist Deniz Yücel in der Türkei in Untersuchungshaft, und es ist nicht absehbar, wann er freigelassen wird. Erst am Mittwoch hat das Istanbuler Amtsgericht den Einspruch gegen den Haftbefehl abgelehnt.

Deshalb haben die Freun­d*in­nen des Journalisten zusammen mit den Zeitungen und Verlagen, für die Yücel schreibt und geschrieben hat, eine Soli-Lesung unter dem Motto „Beste Deniz wo gibt“ organisiert. „Das Wenigste, was wir tun können, ist, unsere Stimmen stellvertretend für ihn zu erheben, damit er weiß, dass er nicht allein ist“, sagt die Publizistin Mely Kiyak zu Beginn der Veranstaltung.

Also lesen sie die Kolumnen, die Deniz Yücel für die taz geschrieben hat, frühe Texte, die in der Jungle World erschienen sind, einen Artikel aus der Welt, der ihm von der türkischen Staatsanwaltschaft zum Vorwurf gemacht wird, und Ausschnitte aus seinem Buch „Taksim ist überall“. Es ist still im Publikum, das zum Teil auf dem Boden sitzt. Deniz Yücels Texte im Wissen zu lesen, dass er im Gefängnis von Silivri in Einzelhaft sitzt, ist traurig – doch nichts im Vergleich dazu, wenn seine Kolleg*innen sie vortragen. Was Özlem Topçu, Mely Kiyak, Andreas Rüttenauer, Margarete Stokowski und viele andere Kulturschaffende vorlesen, geht unter die Haut.

Der Abend bekommt eine gefährliche Schlagseite, als Shahak Shapira aus „Taksim ist überall“ die Geschichte des 19-jährigen Ali İsmail Korkmaz vorliest, der bei den Gezi-Protesten sein Leben verloren hat. Da wischt sich schon der ein oder andere die Augen. Und dass Özlem Topçu immer wieder Deniz Yücels Satz „Dieses Land ist komplett irre“ wiederholt – ein Satz aus einem taz-Kommentar nach Gezi, in dem so viel Wut und Hoffnung mitschwingt –, macht es nicht besser.

„Das Wenigste, was wir tun können, ist, unsere Stimmen stellvertretend für ihn zu erheben, ­damit er weiß, dass er nicht allein ist“

Mely Kiyak

Doch dann trägt Jens Friebe „Ich geh ooch ma zum Döner“ vor, Deniz Yücels Reportage von einer Pegida-Demonstration im Dezember 2014. Wie Yücel die „besorgten Bürger“ beschreibt, die alles sind, nur keine Nazis, ist unheimlich komisch. Dann wird es mit Maxim Biller noch lustiger, denn es folgen die Vuvuzela-Kolumnen, die Yücel zur WM 2010 in der taz geschrieben hat. Boagurk, Gurksteiger – das Publikum lacht bei jeder Vergurkung von Fußballernamen, als würde Lachen befreien.

Und dann ist es schlagartig wieder 2017 und Deniz Yücel sitzt im Hochsicherheitsgefängnis. Die Realität holt das Publikum ein, nachdem Margarete Stokowski Deniz Yücels rührend komische Liebeserklärung an den Autokorso vorgetragen hat. Doris Akrap von der taz und Daniel-Dylan Böhmer von der Welt lesen aus dem Protokoll von Deniz Yücels Vernehmung vor – der einzige Text an diesem Abend, den nicht der inhaftierte Journalist geschrieben hat. Was sie da in nüchterner Behördensprache wiedergeben, verdient ein Prädikat, das man besser sparsam verwendet: Es ist kafkaesk. Vor dem Haftrichter muss sich Deniz Yücel für einen Witz und das Wort „Hütchenspieler“ rechtfertigen. Und dafür, dass er den zweithöchsten PKK-Funk­tionär Cemil Bayık interviewt hat – also seinen Job gemacht hat.

„Die Aufgabe eines Journalisten ist es, diejenigen zu kritisieren, die gerade an der Macht sind – egal wer“, zitiert Doris Akrap den Journalisten in seiner Vernehmung. Das ist zum Verzweifeln; und doch schwingt in allem, was an diesem Abend von Deniz Yücel vorgelesen wurde, ein wenig Hoffnung mit. Wie er am Ende seines taz-Kommentars „Ein irres Land“ schreibt: „Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Schön wär’s. Aber man weiß nie. Denn dieses Land ist komplett irre.“