Kalkweiße Machbarkeitsstudien

Tanz „Der Garten der Lüste“ – ein Paradies tänzerischer und choreografischer Ideen. Die Pots-damer Tanztage eröffnen mit Marie Chouinards Interpretation des berühmten Bildes von Hieronymus Bosch

Mit Bosch im Blick: Marie Chouinards „Garten der Lüste“ bei den Potsdamer Tanztagen Foto: Nicolas Ruel

von Astrid Kaminski

Die menschlichen Wesen, die neben Tieren und Früchten das Mittelbild von Hieronymus Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“ bevölkern, müssen allesamt Akrobat*innen und Tänzer*innen sein. Unbewusste oder untrainierte Körper könnten das Gemälde nicht nachstellen: nicht die Anmut der Körper und genauso wenig deren Gefühl für Komposition, für Wiederholung und Differenz. Oder die Virtuosität, die es braucht, um die in Reihenkonfigurationen sowie in Tier- oder Fruchtkostümen ausgeführten Hand- und Kopfstände zu meistern, ganz zu schweigen von der Akrobatik der Reitergruppen.

Für letztere reichen selbst fortgeschrittene Voltigierkünste nicht aus. Verschiedenste Tiere von Pferden über Bären, Dromedare, Geparden, Schweine bis hin zu straußenähnlichen Fantasievögeln werden auf dem Bild in einer Open-Air-Manege in koordinierten Gangarten zügellos beritten, während die Reiter*innen sich in hochakrobatische Posen arrangieren.

Teilweise halten sie Äste oder verzweigen ihre Gliedmaßen so, dass Vögel sich darauf niederlassen können. Im hinteren Zentrum der kreisförmigen Choreografie Boschs reitet ein Mensch auf einem Schwein, die Beine bis in die Fußspitzen nach vorn gestreckt, wobei er sich offenbar über die Wadenmuskulatur am Tierkörper so stützt, dass die Hüfte über dessen Rücken gehalten wird, während die Arme in einem weiten V, das mit dem Flügelschlag eines Reihers korrespondiert, nach oben gestreckt sind.

Erstaunlicherweise hat sich die Rezeption des „Garten der Lüste“ als Paradies tänzerischer und choreografischer Ideen jedoch erst vergangenes Jahr, aus Anlass von Hieronymus Boschs 500. Todesjahr, durchsetzen können. Gleich mehrere Choreografien entstanden, darunter auch die am Dienstag zur Eröffnung der Potsdamer ­Tanztage zur deutschen Premiere gekommene Bildinterpretation von Marie Chouinard. Sie ist die derzeit im Festivalkontext bekannteste kanadische Choreografin und steht in Potsdam gleichzeitig für den Kanada-Fokus der diesjährigen Tanztage-Ausgabe.

Seit 21 Jahren kooperieren die Tanztage Potsdam mit dem Tanzhaus Dancemakers in Toronto. Grund, die Staatsgründung Kanadas vor 150 Jahren in Potsdam mit einem Kanada-Schwerpunkt mitzufeiern.

Nach der Festivaleröffnung mit der Compagnie Marie Chouinard stehen bei den Tanztagen bis zum 28. Mai noch drei weitere kanadische Produktionen im Programm: „Vic’s Mix“ von den bewegungsintensiven Rubberbandance, ein dramatisch-sinnliches Duo von Frédérick Gravel sowie „Unrelated“, eine Auseinandersetzung der Choreografin Daina Ashbee mit dem Schicksal indigener kanadischer Frauen, die danach zur Biennale nach Venedig weiterreist. Info: www.potsdamer-tanztage.de

Methodisch greift Chouinard in ihrem Bosch-Stück auf ihre erfolgreiche Animation der Tuschezeichnungen von Henri Michaux zurück: Einzelne Bildszenen werden zu Sequenzen, in denen die per Projektion vergrößerten Gemälde-Posen durch Bewegungen hergeleitet werden und sich danach wieder verflüchtigen. Manchmal gibt es einen Still in dem Moment, in dem Bewegung und Bild exakt korrespondieren, manchmal ist es den Zuschauenden überlassen, den augenblicklichen Moment zu erfassen. Für Michaux entfalteten Chouinards Tänzer*innen eine mehr als kongeniale Fantasie – die im Rauschzustand entstandenen, kalligrafisch anmutenden Zeichnungen wurden bei ihnen zu lebendigen, aus der Chiffre befreiten Wesen.

Ein bisschen Punk-Karneval

Bei Bosch gelingt das weniger. Mit ihren kalkweiß gefärbten, nur mit Tanga und Knieschonern bekleideten Tänzer*innen arbeitet sich Chouinard von der Mitteltafel des Triptychons zur Hölle des rechten Seitenflügels und zum Garten Eden des linken Flügels durch. Während bei der so selektiven wie getreuen Interpretation der Mitteltafel Pose auf Pose folgt, wobei vor allem die Zweier- und Dreierkonstellationen nachgestellt werden, nutzt sie die Chaos-Energie des Höllentableaus für einen freieren Bilderreigen, der ein bisschen nach Punk-Karneval wirkt. Als der Spuk vorbei ist, folgt, in repetitiven Anordnungen und Variationen, die Konzentration auf die strenge, zentrale Schöpfungsikonografie des Garten Eden.

Viel mehr als hintereinander geschnittene Einzelstudien erlebe ich dabei nicht. Die Überfülle Boschs verödet im Sequenzieren, die Fantasie entfaltet sich nicht weiter, sondern wird in eher einfache Machbarkeitsstudien gebannt – was bei Chouinards ansonsten virtuoser Getriebenheit verwundert.

Am Interessantesten wirkt noch die asexuelle Energie der fast nackten Körper, als Parallele zu Boschs körperlichen Lustspielen

Am Interessantesten wirkt noch die asexuelle Energie der fast nackten Körper, als Parallele zu Boschs nichtpornografischen körperlichen Lustspielen. Allerdings gibt es in dieser Beziehung Arbeiten von Choreograf*innen wie Jess Curtis, Meg Stuart oder Keith Hennessy, die spannender mit nichtpornografischer Sexualität umgehen. Bei Chouinard scheinen die Körper nicht nur keusch, sondern auch jeglicher Luststimulanz entsagt. Etwa in Meg Stuarts „Until Our Hearts Stop“ ist es dagegen gerade das freie Spiel mit Stimulanzen, das wie bei Bosch aus beschränkten Sexualmustern ausbricht.

Wenn Hieronymus Bosch ein Aktmodell für seinen „Garten der Lüste“ gebraucht hätte, dann wäre er in einem weiteren Stück der ersten Potsdamer Festivaltage fündig geworden: dem Solo „Le Récital Des Postures“ der derzeit Lausanner Tänzer-Choreografin Yasmine Hugonnet. Unter vehementem Bauchmuskeleinsatz führt sie ihren unbekleideten Körper durch Posen, die, durch- und weitergefühlt, leise aber beständig eine surreale Situationskomik auslösen, bis es unter der eigenen Bauchdecke zu kitzeln beginnt.

Das ist nicht nur magisches Theater, sondern erzeugt auch einen Bilderreigen, der organisch-organoid durch die milde Mainacht weiter wuchert.