Kinder in Uniformen und Jugendweihe backstage
: Die Sache mit dem Alter

Ausgehen und rumsthehen von

Lea Streisand

Feiertage sind eine merkwürdige Angelegenheit. Da ist so ein Tag, ein ganz normaler, alltäglicher. Menschen werden geboren, sterben, verlieben sich, kochen Kaffee und gehen ihren Geschäften nach. Und plötzlich kommt jemand vorbei und sagt: Das ist jetzt Feiertag! Und die Menschen lassen den Kaffee stehen und den Liebsten sitzen und rennen los, Kleidchen anziehen, Lieder singen, Reden halten. Und dann fühlen sich alle als Teil einer Gemeinschaft, von der manch andere gar nichts wissen.

Letzten Dienstag zum Beispiel war ich mit meiner kasachischen Freundin Tanja zum Tag der Befreiung am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Da war ich das letzte Mal zu Schulzeiten und trug ein blaues Pioniertuch.

Durch Zufall hatten Tanja und ich überhaupt von dem Fest erfahren. „Herzlichen Glückwunsch zum 9. Mai!“, schrieb Tanjas Mutter ihr über Whatsapp. „Das wird in Berlin bestimmt groß gefeiert.“ Tanja lachte und schrieb zurück, das sei überhaupt kein Thema in Berlin.

Von wegen! Man muss eben nur wissen, wo man hinmuss.

Überall waren Blumen, verkleidete Kinder in Uniformen, viele besoffene Russen, noch mehr besoffene Punker. „Ich dachte, so was gibt’s überhaupt nicht mehr!“, brüllte ich Tanja ins Ohr, während die Bolschewistische Kurkapelle in Fanfaren, Trompeten und Hörner blies.

„Ich glaube, wir sind nur alt geworden!“, brüllte Tanja zurück.

„Wie alt bist du eigentlich, Lea?“, fragte mich Samstag einer der Tänzer bei der Jugendweihe, wo ich derzeit ab und zu das Kulturprogramm ergänze. Ich mache das seit Jahren. Auf nichts werde ich so oft angesprochen. Neulich bei der Schönen Party von Radio Eins nach meiner Lesung sagt eine Frau auf der Tanzfläche zu mir: „Dich kenn ick. Du bist die Schriftstellerin!“, und ich denke: Ja klar, mein Sender, meine Party, ick bin hier der Star. Und sie sagt: „Ick hab dich bei der Jugendweihe jesehen, war lustich jewesen, wie heißt du noch mal?“

Jugendweihe also. Backstage. Einer der Tänzer schaut mir beim Schminken zu. „Wie alt bist du eigentlich, Lea?“, fragt er.„37“, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin aus dem Alter raus, wo man bei solchen Fragen schamvoll errötet und erwidert: Rate doch mal! Was denkst du denn?

Der Tänzer begutachtet mich mit Kennermiene. „Gutes Bindegewebe“, sagt er. Als wäre ich eine Zuchtstute. „Na, die Haare machen ja auch viel“, fügt er hinzu. Ich überlege, ob ich ihm auch meine Zähne zeigen soll.

Die Jugendlichen vor der Bühne haben sich sehr fein gemacht. Ich sehe Turmfrisuren, die Marge Simpson neidisch machen würden, und Schulterpolster wie bei Modern Talking. Es werden Reden gehalten, Blumen verteilt und Lieder gesungen und dann gehen alle nach Hause.

Am Sonntag sind wir beim Gegenprogramm. Rakete 2000, unsere Lesebühne, ist bei Heinrich Böll eingeladen, der Stiftung. Zu Wein und Bier und Apfelschorle. Und Häppchen. Aber vorher müssen wir singen und Texte aufsagen. Wegen Muttertag. Auf dem Weg dorthin ruft meine Mutter an. „Kindchen, wie jeht et dir?“, fragt sie.

„Schlecht!“, sage ich. „Sehr, sehr schlecht. Ich habe überhaupt nichts zum Anziehen.“ „Oh, das kenne ich“, sagt meine Mutter. „Das muss in der Familie liegen.“ Ich wollte nämlich eigentlich mein zitronengelbes Kleid anziehen, aber dann war Regen, also doch Hose.

„Was machst du denn grade?“, fragt meine Mutter. Ich erzähle es ihr. „Nazikacke“, sagt sie. „Muttatach is Nazikacke. Und außerdem sollst du nich telefonieren, wenn du Fahrrad fährst!“

„Ja, Mama“, sage ich.