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Autonomie über alles

GEBÄREN Selbstbestimmt, frei, natürlich? In Deutschland proklamieren einige Mütter die Alleingeburt ohne fachliche Unterstützung. Es sind bisher Einzelfälle, doch Experten warnen vor den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind

Alleingeburt oder eine mit medizinischer Hilfe? In diesem Falle ist es jedenfalls gut gelaufen Foto: Westend61/imago

Von Janet Weishart

Ein Video auf YouTube. Es zeigt Sarah Schmid, hochschwanger, in ihrem Wohnzimmer. Ihre rechte Hand umklammert ein Holzregal, die linke stützt sich am Kachelofen ab. Sie wiegt sich, atmet tief, kniet bald, schreit. Es ist ein Mittag im April, es ist keine Hebamme anwesend, kein Arzt, und Sarah gebärt ihr viertes Kind, „zum dritten Mal in Eigenregie“.

Die inzwischen 35-jährige, gebürtige Hallenserin ist mittlerweile sechsfache Mutter und brachte insgesamt fünf ihrer Kinder selbst zur Welt. Damit gilt die approbierte Ärztin in der deutschen „Alleingebärenden“-Szene als Pionierin. Sarah schreibt Bücher und gibt sehr offene Interviews, für das „Recht der Frau auf ein selbstbestimmtes Geburtserlebnis“. Andere Gleichgesinnte wie Jobina Schenk, die als „Meisterin der Geburt“ Selbstcoaching-Lektüre verfasste, leben ihr Weltbild eher im Internet aus, wo auch 499-Euro-Onlinekurse für schmerzfreies Gebären ohne „Feldwebel“ angeboten werden. Die Community blüht. 2016 gab es 104 Alleingeburten, im Vorjahr 42. Mit Blick auf rund 730.000 in Krankenhäusern und über 9.000 außerklinisch geborene Kindern deutschlandweit sind es Einzelfälle, aber brisante.

Bei vielen Alleingebärenden sind schlechte Erlebnisse bei der ersten Entbindung ein Auslöser, nur noch selbstbestimmt gebären zu wollen. Auch Schmid war „unglücklich mit dieser ersten Hausgeburt“, mit der Vertretungshebamme, dem Geburtsstillstand, der Idee einer „Verlegung ins Krankenhaus“. „Da habe ich mich auf meine Kraft besonnen“, so Schmid, „und das Kind doch noch natürlich bekommen.“ Dem System Klinik, das bei einem hohen Prozentsatz aller Geburten medizinische Eingriffe verursacht, habe sie schon damals nicht vertraut. Hebammen seitdem auch nie mehr: „Mich stört die Anwesenheit von Expertinnen.“ Vom Gesetz her ist eine Alleingeburt in Deutschland – im Gegensatz zu Österreich mit der dortigen Hebammen-Beiziehungspflicht für Gebärende – nicht verboten.

Nur Mut: Mütter sollten ihre Vorstellung von Geburt mit He­bammen wie Ärzten besprechen.

Geburtshäuser: 8 in Berlin, 130 bundesweit. Zudem sind Hausgeburten möglich.

Infos zur natürlichen Geburt unter www.greenbirth.de &www.berlinergeburtshaeuser.de

Die Qualität außerklinischer Geburten dokumentiert unter anderem www.quag.de (jw)

Die Berliner Hebamme Janka Kreye vom Geburtshaus Charlottenburg: „Jede Frau kann den Ort der Geburt frei wählen, sie trägt auch die volle Verantwortung für ihr Handeln. Aber nach 20 Jahren in der außerklinischen Geburtshilfe weiß ich, dass – obwohl wir im Geburtshaus ausschließlich gesunde Frauen ohne Risiken, die ein gesundes Baby erwarten, betreuen – dennoch unerwartete Komplikationen auftreten. Von 100 Frauen verlegen wir 20 in die Klinik. Eine Alleingeburt ist für mich darum so, als würde man ,Lieber Gott' spielen.“

Dazu dass Sarah Schmid meint, sich selbst schulen zu können und damit das Risiko – auch bei Beckenendlage – im Griff zu haben, sagt Kreye: „Unsere drei- bis vierjährige Ausbildung lehrt Wissen, dass sich niemand einfach mal anliest. Die Herztöne des Kindes, der Druck auf dessen Kopf – sehr viel muss beachtet werden. Wer seine Geburt eigenständig leitet, kann das nicht. Geschweige denn, adäquat reagieren.“

Als Fürsprecher der „natürlichen Geburt“ hat Michael Abou-Dakn, Chefarzt der gynäkologisch-geburtshilflichen Klinik am St.-Josef-Krankenhaus Berlin, grundsätzlich Verständnis dafür, „dass Frauen möglichst autonom sein und gebären möchten, auch, weil wir Ärzte den Frauen jahrzehntelang sehr viel Angst rund um die Geburt gemacht haben“. Trotz allem ist Abou-Dakn klar gegen Alleingeburten: „Denn die Bewegung der Alleingebärenden argumentiert aus dem ,Schlemmerland‘ heraus. Medizinisch gesehen leben wir im Luxusumfeld, mit einer nahezu optimalen Versorgung und somit einer geringen Mütter- und Kindersterblichkeit. Diese ist so unwahrscheinlich geworden, dass sie aus den Köpfen verschwunden ist.“

Rückblick: 1955 lag die Müttersterblichkeit noch bei 137 pro 100.000 Lebendgeburten in der Bundesrepublik und die Neugeborenensterblichkeit bei etwa 4,52 Prozent. Heute ist die sie in Deutschland auf 7 pro 100.000 Geburten gesunken, die Säuglingssterblichkeit liegt im Bereich 0,5 Prozent – dank einer 99-prozentigen Geburtsbegleitung durch Hebammen oder Ärzte. Wenn Alleingebärende dann Naturvölker und deren „leichte Geburten, mit sich selbst in der Hütte“ zitieren, verweist der Mediziner nach Afrika: Im Tschad sterben bei einer nur 17-prozentigen Betreuung von Geburten 1.100 Mütter pro 100.000 Entbindungen, oft wegen Blutungen, Infektionen und Bluthochdruck. Dass Gebären inzwischen so sicher sei, liege an den Fortschritten in der Hebammenkunde und Geburtsmedizin.

Vom Gesetz her ist eine Alleingeburt in Deutschland nicht verboten

Schmid entgegnet Kritikern dennoch: „Ich habe Vertrauen in eine gute Geburt in Eigenregie. Ich handle so, wie es für mich angenehm ist, egal, was andere sagen. Restängste mache ich mit mir und in Gebeten mit Gott aus. Das ist auch eine Glaubensübung.“

Schließen sich Geburtsmedizin und Selbstbestimmung aus? Abou-Dakns Geburtsklinik, geburtenstärkste Deutschlands mit 4.500 Babys jährlich, hat das Konzept: „Frauen eine weitgehend selbstbestimmte Geburt zu ermöglichen, indem Hebammen die Geburt primär begleiten und Ärztinnen meist passiv agieren aber die maximal-medizinische Versorgung sicherstellen.“ Hebamme Kreye betont: „Jede Frau kann ihre Spiritualität auch mit einer Hebamme, etwa im eigenen Umfeld oder Geburtshaus, leben.“ Bundesweit unterstützen rund 3.400 außerklinische Hebammen Schwangere dabei und nehmen sich auf Wunsch stark zurück. Kreye: „Ich bleibe auch gern vor der Tür sitzen, wenn ich nur ab und zu die kindlichen Herztöne hören darf.“