Entschlafene Worte

Karl Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“ im Polittbüro

Wenn kommende Woche im Polittbüro Karl Kraus‘ Die letzten Tage der Menschheit anlässlich eines Gastspiels des Schauspielhaus Zürich aufgeführt wird, geschieht eigentlich Unmögliches: Nicht weniger als 220 Szenen mit über 500 Mitwirkenden umfasst das Stück, dessen erste Version zwischen 1915 und 1917 entstand.

In dem lange Zeit als unaufführbar geltenden Drama rechnet Kraus mit der Kriegsbegeisterung seiner österreichischen Landsleute ab. Allerdings wird sich die Schauspielerin Katja Kolm in Begleitung des Cellisten Bruno Weinmeister auf eine Textauswahl unter dem Titel „Bumsti!“ beschränken, die sie als „Stimmkonzert“ präsentieren wird.

Mit ihrem Programm wollen Kolm und Weinmeister an einen in Vergessenheit geratenen Autoren und Publizisten erinnern. Denn gemessen an seiner Produktivität müsste Karl Kraus zu den wichtigen Klassikern linker Kritik gehören. Allein 30.000 Druckseiten umfasst die von ihm über Jahrzehnte publizierte Zeitschrift „Die Fackel“. Sein künstlerisches Selbstverständnis umriss er prägnant: „Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: Sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören will.“

Dieser intellektuellen Sperrigkeit blieb Karl Kraus treu. Seine Zeitgenossen reagierten mit Anfeindungen, die Nachwelt mit ratlosem Desinteresse. Damals wie heute mutete Kraus seinem Publikum einiges zu. Als Verfechter der Assimilation setzte sich Kraus dem bis heute gegen ihn erhobenem Vorwurf des Antisemitismus aus. Tatsächlich schätzte er den Antisemiten Housten Chamberlain, war aber ebenso mit Brecht befreundet und näherte sich Ende der Zwanzigerjahre politisch der KPD an.

Seine politische Unabhängigkeit hat Karl Kraus niemals aufgegeben. Als jedoch die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland die Macht übernahmen, verstummte er zunächst. „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“, kommentiert er sich selbst wenig später, ahnend, dass der vorläufige Sieg des Faschismus eine Katastrophe markierte, der mit Worten allein nicht mehr beizukommen war.

Die letzten Tage der Menschheit gilt als Vorwegnahme des von Brecht propagierten epischen Theaters. Die dort von Kraus entwickelte Technik der Montage von Zeitungsmeldungen, Anzeigen und militärischen Tagesbefehlen mit fiktionalem Text weist weit über den politisch-ästhetischen Horizont seiner eigenen Zeit hinaus.

Andreas Blechschmidt

27.+28.9., 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45