„Wir wollen die Spreizung“

MUSIK Unter dem Titel „Freie Auswahl“ beginnt morgen das 17. Festival der projektgruppe neue musik: Ein Gespräch über Konzepte, Kinder und die Risiken der Uraufführung

■ ist Komponist, lebt in Bremen und engagiert sich bei der Projektgruppe „neue musik“.

Interview: Henning Bleyl

taz: Herr Ogiermann, das morgen beginnende Festival der Projektgruppe Neue Musik trägt den Titel „Freie Auswahl“. Frühere Festivals hießen „Verstummen – Sprachlos“,„Das Rohe und das Gekochte“, waren der Digitalisierung oder der „Musikalischen Konfrontation mit der politischen Gegenwart“ gewidmet. Angefangen haben Sie 1991 sogar mit der Festlegung auf eine Form: „Das Streichquartett“. Ist dem Festival der thematische Fokus abhanden gekommen?

Christoph Ogiermann: Wir haben festgestellt, dass es immer schwieriger wurde, eine Bezüglichkeit aller aufgeführten Stücke zu einem einzigen Motto herzustellen. Es gibt in der Neuen Musik mittlerweile eine starke Polarisierung zwischen Komponisten, die sich nach wie vor dezidiert auf gesellschaftliche Strukturen beziehen – und denen, die das strikt ablehnen. Diese distanzierte Gruppe können wir nicht länger ignorieren und haben daher das Festival-Konzept geöffnet. Aber wir laden nach wie vor Leute wie Hannes Seidl und Daniel Kötter ein, die mit ihrer Videoinstallation „Falsche Freizeit“ einer explizit sozialen Sichtweise folgen. Wir haben auch festgestellt, dass zentral vorgegebene Kategorien für die Gesprächsrunden, die neben den Konzerten wichtiger Bestandteil des Festivals sind, eher hinderlich sind. Da saßen die Komponisten dann manchmal und sagten: „Digitalisierung? Damit hab‘ ich nichts zu tun.“ Ende. Der Blick aus den Stücken heraus auf gesellschaftliche Prozesse ist deutlich fruchtbarer.

Sind Sie sich innerhalb der Projektgruppe über diese Umorientierung einig?

Natürlich nicht! Wir führen darüber intensive Diskussionen, wobei teilweise auch ein Generationsunterschied bemerkbar ist. Die Älteren sind in einem anderen gesellschaftspolitischen Konsens aufgewachsen und müssen sich heute, noch stärker als die Jüngeren, mit der Erosion der Ideen auseinandersetzen. Etwas Jüngere wie ich suchen da auch Ansätze in praktischer Auseinandersetzung, zum Beispiel mit dem Vorstadtleben, etwa in der Arbeit mit Schülern – eine Perspektive, die vielen der eingeladenen Komponisten vermutlich recht fremd ist.

Dem setzen Sie mit dem Festival aber auch nichts entgegen: Für Schüler gibt es dort keine Angebote.

Das müssen wir auch nicht, weil die Projektgruppe eine andere Ausrichtung hat. Wir sind kein Vermittlungs-Festival. Wir sind in Bremen der einzige Veranstalter eines Festivals für zeitgenössische Musik – gäbe es fünf, konnte man das Angebot natürlich differenzieren.

Das klingt so, als wäre die Einbeziehung des Nachwuchses nice to have – aber nichts Essentielles. Dabei sind Kinder doch mehr als alle anderen offen für Unbekanntes. Wer den festen Formenkanon etwa der klassischen Musik noch nicht kennt, ist freier für Klangerfahrungen als manch Erwachsener.

Das würde ich auch unterschreiben. Deswegen mache ich selbst ja ständig Schulprojekte.

Die aber nicht in den eher akademischen Rahmen des pgnm-Festivals passen?

Das wäre gegebenenfalls noch zu diskutieren. Mit dem akademischen Hintergrund ist es ja so, dass man sich auch weiter entwickelt. Meine eigene Musik ist mittlerweile wesentlich trashiger geworden, als das in der Neuen Musik früher üblich war. Dazu gehören auch neue Festival-Orte wie die „Spedition“, die wir dieses Jahr erstmals bespielen.

Es ist bemerkenswert, mit welche Kontinuität Sie die die größtenteils ehrenamtliche Arbeit leisten und schon das 17. Festival auf die Beine stellen: Über die Hälfte der pgnm-Mitglieder sind von Anfang an dabei. Wie einigen Sie sich auf die einzuladenden Künstler?

Jeder hat natürlich seine Vorlieben und schlägt Stücke vor, über die wir dann ausführlich diskutieren. Früher war das Festival meist auf rein instrumentale Musik fixiert, jetzt spielt die Medialisierung eine große Rolle. „Falsche Freizeit“ zum Beispiel ist im Prinzip ein Musikvideo-Theater, in dem alte Männer ihre Hobbies vorstellen.

Die Projektgruppe hat bei Julio Estrada eine Uraufführung in Auftrag gegeben, was ein Novum darstellt. Warum?

Die Siemens-Stiftung hat die Finanzierung übernommen, sonst hätten wir das nicht machen können. Wir sind nicht besonders fixiert auf Uraufführungen, auch deshalb, weil wir vorher genau wissen wollen, was wir ins Programm nehmen.

Passt so ein „Sicherheitsdenken“ zum Spirit von Neuer Musik?

Wir übernehmen eben die Verantwortung für das Programm: Uns ist wichtig, dass die gewollte Spreizung, die Spannung zwischen den Programmpunkten, tatsächlich eintritt. Bei der Suche hingegen gilt das Prinzip der Offenheit. Natürlich auch bei den Improvisationen. Früher gab es die nicht häufig auf unserem Festival, diesmal ist etwa Lê Quan Ninh dabei: Ein absolut fulminanter Schlagzeuger, der seine Trommel ständig umpräpariert.

Die beteiligten Bremer Komponisten alle Mitglieder der Projektgruppe. Wo bleiben die anderen Bremer Komponisten?

Wie immer gibt es ästhetische Differenzen. Tendenziell würde ich sagen: Wir sind experimenteller in der Instrumenten-Behandlung. Geräuschhafter. Lauter.

Wie kann man sich beispielsweise das Stück „Mono-Metall-Space“ von Wilfried Ritsch vorstellen, das Sie kurzfristig ins Programm genommen haben?

Als einziges „Instrument“ hängt eine Blechplatte an einem Schlagzeugständer, die wie von Geisterhand auf einmal Töne von sich gibt. In Wahrheit wird sie durch einen auf ihr montierten Lautsprecher in Schwingungen versetzt, die auf der Unterseite der Platte wiederum abgenommen werden. Im Prinzip ist das eine einzige Rückkopplung – oder ein ständiges, faszinierendes Vexierspiel.

Festival: 16. bis 18. 11. Programm: www.pgnm.de. Heute vorgeschaltet: John Cage-Tag an der HfK