Durch die Qual zur Nähe

Die schmerzlose Geburt liegt im Trend: Bei der Mehrzahl aller Geburten wird entweder ein Kaiserschnitt angewandt oder die Frauen entscheiden sich für eine Betäubungsspritze. Doch der Geburtsschmerz hat auch eine Funktion, sagen Wissenschaftler

VON JÖRG ZITTLAU

„Unter Schmerzen sollst Du Kinder gebären.“ So heißt es im 1. Buch Mose, doch heutige Frauen wollen das nicht mehr unbedingt akzeptieren. Nicht nur Claudia Schiffer und Victoria Beckham brachten ihr Kind per Kaiserschnitt zur Welt, in Deutschlands Kliniken entscheidet sich jede vierte Frau für die „Sectio Caesarea“ und fast jede dritte zumindest für eine Schmerzbetäubung mittels Peridural-Anästhesie.

Ein Beleg für die zunehmende Selbstbestimmung der Frauen, die sich nicht mehr vom Geburtsschmerz überrollen lassen wollen? Hebammen wollen diesem Argument nicht unbedingt folgen. Ihre Fachzeitschrift Die Hebamme erklärte unlängst, dass der Trend zur schmerzlosen und bequemen Entbindung die Frauen „in die passive Rolle des Entbundenwerdens drängt und sie und ihr Neugeborenes um eine wichtige Erfahrung bringt“. Es gibt aber auch medizinische Gründe dafür, nicht auf die natürliche Geburt und den mit ihr verbundenen Schmerz zu verzichten.

So fungieren die Entbindungsschmerzen im weiblichen Körper als Signalgeber. Die Frau wird gezwungen, sich zu bewegen und damit sich selbst und das Kind vor Schäden zu bewahren. Darüber hinaus kommt es, wie Professor Wulf Schiefenhövel von der Max-Planck-Gesellschaft betont, zur verstärkten Ausschüttung von Beta-Endorphin, das Schmerzen erträglicher macht und Ängste abbaut. Das Hormon sorge zudem, wie der Mediziner und Verhaltensforscher erklärt, für euphorische Gefühle, sodass die Mutter „die auf die Geburt folgenden Minuten als oft überwältigend glückhaftes Ereignis“ empfinde.

Das deckt sich mit den Beobachtungen von Verena Schmid, die in Florenz eine Hebammenschule leitet. Demnach würden die Entbindungsschmerzen von den Außenstehenden oft bedrohlicher empfunden als von den Gebärenden selbst. Die beschreiben hingegen das Gefühl während ihrer Geburten als „Stärke, Kraft, Überwältigung und Grenzerfahrung“. Im Unterschied zu jenen Frauen, bei denen der Geburtsprozess unterbrochen wurde. Hier kommt es immer wieder zu traumatischen Erlebnissen.

Ein weiteres Schlüsselhormon, das durch den Geburtsschmerz in großen Mengen ausgeschüttet wird, ist Oxytocin. Im weiblichen Körper wird es sonst beim Orgasmus ausgeschüttet, und zu seinen zentralen Aufgaben zählt, ein Gefühl der Nähe zu anderen Menschen auszulösen. Im Anschluss an die Geburt sorgt es dafür, dass die Mutter sofort ein intimes Verhältnis zum Neugeborenen aufbaut. „Dadurch wird der Mutter-Kind-Beziehung“, wie Verena Schmid ausführt, „ein wertvoller Nährboden bereitet.“ Frauen, die per Kaiserschnitt entbunden hätten, müssten demgegenüber oft Monate oder sogar Jahre daran arbeiten, um diese Basis aufzubauen.

Das Hormon Oxytocin hat zudem noch einen erwünschten Nebeneffekt: Es führt zu einem ausgeprägten Gedächtnisverlust. Es nimmt also, so Schiefenhövel, „den Frauen die Erinnerung an die schwere Belastung durch die Geburt“. Weswegen die meisten Frauen sich schon einige Wochen nach der Niederkunft vorstellen können, abermals ein Baby zu bekommen.