ZEIT.ORTE

Hülle und Substanz

Philipp Rhensius ist freier Autor, Musiker (Kl.ne, INRA, aphtc), Soziologe und Redakteur (Norient Magazine). Seine Musik und Texte hinterfragen Selbstverständlichkeiten, suchen das Absurde im Ernsten, das Ernste im Absurden und versuchen, im Abstrakten das vermeintlich Vertraute zu erkennen. Seine Kritiken, Reportagen und Essays erscheinen u. a. in taz, Spex, SZ, Jungle World, NZZ und diversen Buchbänden.

Philipp Rhensius

K-Holes und Turnschuhe

Menschen, die ihre Standpunkte mit dem Vorbeugen ihres Oberkörpers und am Rücken gefalteten Händen anteasern, machen ihn nervös. Eine patronistische Vereinnahmungsgeste. Und manchmal, wenn ihm, wie hier in einem Café, Gesprächsfetzen zufliegen, dann fragt er sich: Was bedeutet das eigentlich, „krass sympathisch“ oder „voll das K-Hole“? Und wenn sie dann ihre schönen Frisuren nach hinten werfen und lachen, die Augen müde vom Kammerflimmern, das sie Leben nennen, versteht er nicht. Dann schaut er in den Himmel. Er schweigt, aber die Wolken blicken zynisch herab, als wollten sie sagen: „Das Subjekt, mein Freund, bohrt ein Loch in seine Gegenwart.“ Doch es bleibt auf halber Strecke stecken. Das Gespräch der beiden jungen Theaterschauspieler dreht sich in elliptischen Kreisen. Ein Loop aus Floskeln und Körpersprache. Nur die Augen, blau wie Stahl, kalt wie das Meer, tanzten in einer komplizierten Choreographie miteinander, ein Spiel der Anziehung und Abstoßung, Traum und Wirklichkeit, Hunger und Durst, Sehnsucht und Gleichgültigkeit, Furcht und Vertrauen, Krieg und Frieden. Krieg herrscht hier, zum Glück, wenn überhaupt nur in den Köpfen der Menschen. Nicht aber im Straßenverkehr. Die U-Bahn, eine Oase. Der aufdringliche Hedonismus der Sitzpolster verleiht ein existentielles Gefühl der Geborgenheit. Weiter im Norden fasziniert das Schauspiel, wie Frauen ihre eigenen in kleine Miniautos gesperrten Seelen über die von Millionen Sneakern abgeschliffene Steinwüste schieben. Und wie einen Block weiter die Kinder, als Antikapitalisten geboren, in einem urbanen Disneyland zusammengepfercht werden, wo sie lachend und schreiend, weinend und singend ihrer eigenen Spezies begegnen können, um langsam die unentrinnbare, warenförmige Beziehung zur Welt zu erlernen.

1.850 Milliarden Tonnen Welt

Später wurde ihm klar: Immer musste er die Dinge verkomplizieren, denn das Einfache war ihm stets verdächtig. Das Einfache ist Stillstand. Das Einfache ist faschistisch. Das Einfache ist die Maschine, die alles am Laufen hält. Das Einfache ist die Gewalt im Alltag, die Gut-und-Böse-Brille. Das Einfache ist der direkte Weg in den Abgrund. Das Einfache ist hübsch, es fügt sich ein, ein Puzzleteil, das überall hinpasst, sich nichts anmerken lässt. Das Einfache ist profitabel. Das Einfache, das ist nicht das, was sein sollte, sondern nur das, was ist. Ohne es zu hinterfragen. Das Einfache sind alle Dinge, die geliket, noch bevor sie Wirklichkeit werden. Exekution durch Kamera. Die Hinrichtung des Jetzt. Aber: Wo ist die Liebe, how deep is your love? Bin ich ein schlechter Mensch? Natürlich nicht. Komme ich in die Hölle? Nein. Bist du ein schlechter Mensch? Ja! Das glaube ich nicht. Ich weiß. Wir können nicht zusammen sein. Nein. Gibt es einen Gott? Natürlich. Ich möchte mit dir tanzen! Das Leben auf der Erde wiegt 1.850 Milliarden Tonnen, aber lass es uns versuchen.

Der Hegel’sche Geist, heißt es, ist wie auf Schienen gesetzt. Aber eine wirkliche Entgleisung bleibt ausgeschlossen. Hegel war nie in einem Club. Dort, wo Geist und Körper mehr als überall sonst zu einer Einheit aus Bewusstsein und Materie verschmelzen. Kontrollierte Entgleisungen. Wie Streichhölzer, die darauf warten, entzündet zu werden, stehen sie vor dem Soundsystem. Der Offbeat simuliert eine aufdringliche Gelassenheit. Eine Drummachine spielt vertrackte Polyrhythmen, ein Vocal-Sample claimt, atemlos auf jede Zahlzeit: I don’t give a fuck. Hier, in jener Parallelwelt, wo Körper auf andere Körper und Bässe auf Rhythmen und jene wiederum auf andere Körper treffen, war endgültig klar, was ab jetzt und für immer die Formel für Musik sein wird: Die Mikrostruktur der Materie ist die Wiederholung der Makrostruktur des Universums und damit nichts anderes als die Anwendung der Dynamik-Gesetze Newtons. Kraft gleich Masse mal Beschleunigung.

Hülle und Substanz

Am frühen Morgen sitzt er in der U-Bahn, die wie eine Schlange durch den Schacht schleicht. Surreale Szenen auf dem Bildschirm: Aus einem Neuwagen zu steigen, der gerade in eine mit rotem Teppich ausgerollte Halle gefahren ist, um für zwei Sekunden den Daumen zur Alles-okay-Geste zu formen, das bedarf schon einer gewaltigen Portion zeitgenössischer Bescheuertheit. Und eine Gier nach feudalem Theater aus der Unfähigkeit der Bedeutungsproduktion heraus. Aber war das nicht schon immer so? Ist die unauffällige Evozierung von Leidensdruck in modernen Firmen nicht seit jeher das beste Mittel zur Effizienzsteigerung, wie es bei gewitzten Unternehmensberatern heißt? Draußen harren die Dinge schweigend ihrem Schicksal entgegen. Ein Baum trauert mit hängenden Ästen, ein Swimmingpool plätschert einsam vor sich hin, getaggte Mauern bewachen Wände engagierter Neubauten, morsche Schaukeln hoffen auf Veränderung, beobachtet von den immer grauen Wolken am Horizont. Ein lebendiges Kind lugt aus einem der leblosen Fenster und träumt von der Freiheit und die Mülltonnen im Innenhof tragen die Reste der Gelage. Leise singen sie im Akkord: Wir, der Müll der Zivilisation, sind das einzig verbliebene Wahrhaftige auf dieser Welt. Wir sind zuerst Hülle und werden mit dem Tod zu Substanz, nicht wie die Menschen, die zuerst Substanz und dann zur Hülle werden.

Eigentlich ist der Mensch immer beides zugleich. Hülle UND Substanz. Ein Paar simuliert routiniert die Gesten der Schauspieler aus dem Film, den sie letzte Woche im Kino gesehen haben. Die Choreografie der Nacht war geprägt vom Bewusstsein, dass Tiere Welten haben, Menschen jedoch nicht. Sie haben nur ein Allerweltsleben. Alles verlief in bekannten Bahnen: Sehnsucht, Euphorie, Verdruss, eine schlechte Kopie von der Choreographie des Tags: Verdruss, Euphorie, Sehnsucht. Menschen, die ihn an andere Menschen erinnern. Straßen, die ihn an andere Straßen erinnern. Maschinen, die ihn an andere Maschinen erinnern.

Wo sind die Fäden?

Am Abend fand er eine Einkaufsliste auf der Straße. Milch, Olivenöl, Mitgefühl, Spülmittel, Zucker, Sicherheit. Als er aufblickte, sah er durch das Fenster einer Bar, in der Menschen die Revolution nur aus Büchern kennen. Darin verwechselten die gebannten, auf den Musiker mit Gitarre gerichteten Gesichter die im Moment des Hörens unkontrollierte Projektion der konfektionierten Gefühle mit den eigenen, fühlten sich aber wohl, weil ihnen, die sich den ganzen Tag durch ihre vom Schuften in flexiblen Dienstleistungs-Jobs perforierten Ichs endlich mal jemand sagte, wie sie sich fühlen sollen, anstatt ständig immer nur nach Worten und Handlungen zu suchen, die ihrem Dasein einen angemessenen Ausdruck verlieh. Weltabbildungskrampf. Ein Tausendstel eines Bluttropfens reicht heute aus, um ein vollständiges DNA-Profil zu erstellen.

Jede Nachricht verlässt die Bahn der Buchstaben mit seinen beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten, um mathematischer Algorithmus zu werden. Was Friedrich Kittler ignorierte, ist, dass sie die Empfänger dennoch ganz banal in Form von Worten mit zuvor vereinbartem Sinngehalt erreicht. Erstmals sind alle Menschen durch eine gemeinsame Zivilisation miteinander verbunden. Zumindest im Internet. Von oben betrachtet: Da ist eine dünne Schicht Plastik und Kupfer über die ganze Welt gezogen. Sie allein ist der Grund, warum wir immer und überall kommunizieren können. Aber wo sind die Fäden, wo sind die Keimzellen? Früher, vor dem Anthropozän, wollten sie Teil einer Jugendbewegung sein, heute nur noch Teil von irgendetwas. Irgendwie ist ein sprachliches Verhütungsmittel. Geschichte wurde durch Technologie ersetzt. Politik durch Gospels. Unsere Körper haben nichts zu sagen. Sie haben ihre eigene Melancholie, in die wir alle eingeschlossen sind – und die wir nur versuchen können zu begreifen.