Wie sich Sexuelle Übergriffe Einschreiben
: Die Angst, die uns begleitet

Foto: privat

Inselstatus Leyla Yenirce

Liebe Insel, ich bin ratlos. Ich bin verunsichert, aufgebracht, enttäuscht, entmutigt, desillusioniert. Wie komme ich jetzt abends nach Hause?

Du bist doch so schön im Sommer, wenn so viele Kinder draußen spielen, kein Tisch mehr vor den Cafés frei bleibt. Keine Treppe vor den Hauseingängen nicht besetzt, weil alle Bier trinkend oder an Sonnenblumenkernen knabbernd das Wetter genießen. So schön, wenn mittwochs und samstags Wochenmarkt auf dem Stübenplatz ist und sich die Menschenmengen durch die Reihen schlängeln.

Doch es ist etwas anders, seit hier, am Stübenplatz Ende Mai eine Frau aus dem Bus stieg und auf dem Nachhauseweg Musik mit Kopfhörer hörte, ohne zu bemerken, dass mit ihr jemand ausstieg, um sie bis in ihre Wohnung zu verfolgen und zu belästigen. Trotz Fahndungsfoto ist der Täter noch immer auf freiem Fuß.

Ich höre auch gerne Musik, wenn ich nach Hause fahre. Die Strecken von der anderen Elbseite ins Viertel sind ja immer so lang. Wie oft bin ich schon diesen idyllischen Radweg über Georgswerder ins Reiherstiegsviertel gefahren, weil es die viel schönere Alternative zur befahren Harburger Chaussee und dem oftmals windigen Deich ist.

Es ist der selbe Radweg, auf dem im Juni zwei Männer zwei Frauen auf ihren Rädern runterrissen, zusammenschlugen und sexuell belästigten, bevor ein Passant einschritt. Auch diese beiden Täter sind noch immer auf freiem Fuß.

Was mach ich denn jetzt, liebe Insel? Ich kann doch auch nichts dafür, dass mich die Gesellschaft auf mein Geschlecht reduziert und ich deswegen Angst haben muss, alleine nach Hause zu fahren. Und nicht mal in Begleitung einer Freundin, nicht mal wenn ich Rad fahre, bin ich sicher.

Selbst dann kann ich runtergerissen werden. Woher nehmen sich solche Leute das Recht? Diese Gewalt ist schon so alt, dass ich zweifele. Es fällt mir einfach schwer zu glauben, ich könnte etwas daran ändern. Was mir bleibt, ist die Ausübungen von Macht infrage zu stellen, zwei Mal die Woche Kampfsport zu trainieren und mir demnächst noch ein Pfefferspray zuzulegen.

Und warum können fast alle weiblichen Personen in meinem Freundeskreis von solchen Ereignissen erzählen? Den Pfiffen aus vorbeifahrenden Autos, Belästigungen in öffentlichen Räumen, Typen, die einen verfolgen.

Eigentlich spreche ich ungern für andere und vermeide das Wir. Aber an dieser Stelle sind nun mal wir Wilhelmsburgerinnen betroffen. Was machen wir jetzt? Uns in unseren Wohnungen einsperren und nach 20 Uhr nicht mehr das Haus zu verlassen, ist keine Option. Dann geben wir Raum auf, der uns zusteht. Das Viertel gehört auch uns.

Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus Wilhelmsburg über Spießer, Linke, Gentrifizierer und den urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.