Alle radeln kreuz und quer durch die Stadt. es könnte so schön sein, wenn nur nicht die Cyborgs wären
: Utopia liegt mitten in Dystopia

Foto: privat

Leyla Yenirce arbeitet als Kulturwissenschaftlerin,Autorin und Künstlerin in Hamburg

G-nervt

von Leyla Yenirce

Es war ein Traum. Die Ampeln waren auf Rot, und ich fuhr trotzdem weiter. Keine Autos auf den Straßen weit und breit. Mein grünes Herz konnte so richtig in die Pedale treten und den frischen Fahrtwind genießen. So fühlt es sich also an, wenn ich beim Radfahren jedes Gesetz brechen kann, und niemanden stört’s, nicht mal den Polizisten, der vor meiner Nase den Verkehr regelt, weil die Ampeln keine Rolle mehr spielen.

Anarchie auf den Straßen. Genau das, wovor die Polizei so viel Angst hatte, wird mir seit Tagen geboten, und ich fahre fröhlich auf vierspurigen Wegen, auf denen sich kein einziges Auto befindet. Sieht so Utopia für Radfahrer*innen aus? Alle fahren kreuz und quer, und niemand muss einen Zusammenprall befürchten, weil es genügend Platz für alle Rad­fah­re­r*in­nen gibt?

Es könnte so schön sein, wenn da nicht die Cyborgs an jeder Ecke wären. Denn wer vom Rad abstieg, der*die musste nüchtern feststellen, dass Utopia sich inmitten einer polizeistaatlichen Dystopie befindet.

Es war Freitagvormittag, als ich die Schanze betrat und sich ein Gefühl breitmachte, das sich schon Tage zuvor langsam angebahnt hatte. Über uns die Hubschrauber, vor uns Busse über Busse über Busse. Grün-weiß, blau-weiß, grau und an jeder S-Bahn-Haltestelle Cyborgs. An den Gleisen, in den Zügen, in jeder noch so kleinen Gasse. Die totale Überwachung. So sieht sie also aus. Es könnte auch ein Dauerzustand sein, dachte ich. Digital ist er ja schon eingetreten.

Was ist, wenn wir uns irgendwann an den Lärm der Hubschrauber gewöhnen, so wie wir uns an den Lärm des Verkehrs gewöhnt haben? Was ist, wenn omnipräsente Cyborgs genauso „normal“ werden wie das Astra an jedem Hamburger ­Kiosk?

Die große Frage, die nach allem bleibt: Wieso fand G20 in Hamburg statt, wenn alle wussten, welche Auswirkungen das haben könnte? War es vielleicht doch Absicht, um genau diesen Zustand mit uns Ham­burger*innen zu erproben? Dienten wir am Ende nur einem Versuch, wie weit man mit der Ausweitung der Kontrolle gehen kann, und Hamburg war das Exempel?

Da ich keine Freundin von Verschwörungstheorien bin, fordere ich lieber den Rücktritt von Olaf Scholz, und Innensenator Grote kann gleich mitgehen. Packt eure Taschen, wenn ihr mit Händeschütteln fertig seid. Diese Stadt ist nicht euer Versuchslabor.

Wir sind jetzt alle müde und machen erst mal Urlaub von G20. Ich empfehle einen Tagesausflug nach Wilhelmsburg. Da hat man außer einer kleinen Kundgebung vom Gipfel nicht viel mitbekommen, und es gibt ein paar wirklich nette Cafés. Die „Bauarbeiten“ am Alten Elbtunnel sind auch schon fertig.