Ameisen im Schneckenbau

Überzeugungsarbeit Auf die Kraft des positiven Denkens setzt das Theaterstück „Erschöpfte Demokratien“ im Max-Planck-Institut

Der Ort selbst hat etwas Utopisches. Das Berliner Max Planck Institut für Bildungsforschung, gebaut an der Lentzeallee in den 1960er Jahren von Hermann Fehling und Daniel Gogel, empfängt den Besucher mit unregelmäßig geschnittenen und inein­andergleitenden Räumen. Als wolle die Geometrie hier selbst mal etwas anderes ausprobieren, ist jeder Raum ohne rechte Winkel angelegt. Berühmt wurde diese Architektur dafür, sich von der Form der Schneckenhäuser und ihrer Spiralen inspirieren zu lassen.

Hier präsentiert die Kölner Gruppe theater-51grad ihr Stück „Erschöpfte Demokratie“: Drei Denkmodelle werden vorgestellt, um die Suche nach besser funktionierenden Gesellschaftsformen anzuregen. Dass dabei einmal Ameisen und ihr Staat auf ihre Tauglichkeit als Modell eines hierarchiefreien Gemeinwesens befragt werden, passt wunderbar in dieses Ambiente.

Vom Untergang und von Katastrophen, von Ängsten und Bedrohungen zu erzählen: Das sei ja recht einfach, gibt ein sich selbst als „Kunstfigur“ und „Utopist“ vorstellender Schauspieler eingangs zu bedenken und tatsächlich findet man davon auf der Bühne heutzutage viel. Das theater-51grad aber will uns in drei Räume des positiven Denkens schicken, so kündigt der Utopist im blauen Anzug an. Aufgeteilt in drei Gruppen wird man in kleine Konferenzräume und in die Bibliothek geschickt, um jeweils in 20 Minuten dicht gedrängt ein System präsentiert zu bekommen.

Grundeinkommen für alle

Jeweils ein Schauspieler trägt vor. In „Europien“ steht ein Gesellschaftsvertrag mit Mittelpunkt, der davon ausgeht, dass das Grundeinkommen für alle europaweit durchgesetzt ist, Geld auf der Bank jährlich 10 Prozent an Wert verliert und also in Umlauf gebracht werden muss. Da würden die Unterschiede zwischen Arm und Reich schnell schrumpfen, behauptet die Referentin im Business-Anzug und fragt ab, in welchem Bereich man sich mit der gewonnenen freien Zeit engagieren wolle.

Im nächsten Raum haben sich Technik und Digitalisierung schon so weit entwickelt, dass man einfach mit seinen Gedanken an einer blauen Gedankenwolke teilnehmen kann. Blaue Tropfen fließen auf einem Bildschirm zu einer Wolke zusammen, der Vortragskünstler hat etwas von einem Mönch mit einer Mission an sich. Böse Gedanken, Egoismus, Anmaßung scheinen in der von ihm gezeichneten Welt nicht zu existieren, wie übrigens in allen Modellen nicht, die die Regisseurin Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich (Text und Dramaturgie) ausgewählt haben. Im OPN (Open Narration) beruht das Aushandeln aller Entscheidungen auf der Teilung des Wissens und der informierten Partizipation für alle. „Berufspolitiker werden überflüssig“, sagt der Referent, das „habe großen Charme“ meint ein Besucher später in der Schlusskonferenz.

Die dient dem Austausch, der Einschätzung der Modelle in den letzten zwanzig Minuten des Abends. Ob die Ameisen oder die Menschen über mehr Rationalität verfügen, wird am Ende mit Leidenschaft diskutiert. Gefehlt habe ihr die Basis aller Utopie, ein Modell für den Umgang mit den endlichen Ressourcen, kritisiert eine Teilnehmerin.

Wenig dagegen hat die meisten Besucher gestört, dass alle drei Systeme eine widerspruchsfreie Welt suggerierten, in der jeder Mensch freiwillig die Einsichten in das Notwendige teilt. Wie hieß es im Staat der Ameisen, von einer Art Priesterin verkündet: „Leben Sie ohne hierarchische Ordnung, engagieren Sie sich freiwillig und ohne Zwang, ohne die eigene Individualität zu verlieren.“ Ein sehr sanftes, säuselndes Brainwashing, suggestiv und verführerisch, so ist der Stil der Vortragenden. Man kennt das aus Science-Fiction-Filmen. So stellen dort totalitäre Systeme ihre Bewohner ruhig.

Katrin Bettina Müller

Wieder am 20. + 21. Juni im Max-Planck-Institut, Lentzeallee 94, Kartenreservierung unter (01 60) 8 02 09 96