„Menschenwürde steht in unser aller Verfassungen“

Miss*ter CSD Die Dragqueen Anna Bolika ist das Aushängeschild der CSD-Saison und eröffnet am Samstag zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller die CSD-Parade. Ein Gespräch über Diskriminierungserfahrungen, Russland und Fetischevents

Dragqueen Anna Bolika

Bürgerlich Artur Weimann, wurde 1990 in Russland geboren. Erinnerungen an seine Heimat hat er bis auf den Bauernhof der Familie kaum. Während seiner Schulzeit in der westdeutschen Provinz wurde er für sein Schwulsein vor allem von einem Jungen angefeindet, dem er später in einer Schwulendisko über den Weg lief. Weimann absolvierte in Hamburg eine Ausbildung zum Musicaldarsteller, arbeitet als Synchronsprecher und Dragqueen.

Interview Michael Thiele

taz: Frau Bolika, typischerweise hat sich eine Dragqueen ja auf eine feste Haarfarbe festgelegt; die Perücken sind meist blond, brünett oder rot. Sie tragen gleich zwei Farben, Platinblond und Erdbeerrot. Wie kommt das?

Anna Bolika: Das ist ein ganz furchtbares Gerücht. Wer immer Ihnen das in den Kopf gesetzt hat, sollte mit einer regenbogenfarbenen Perücke ausgepeitscht werden. Ich habe viele verschiedene Perücken und trage auf dem Kopf, was mir gefällt. Das empfehle ich übrigens jedem.

Bei Ihrer Wahl zur/m Miss*ter CSD 2017 haben Sie Publikum und Jury mit einem selbstbewussten Mix aus Radiohead, Politik und SM überzeugt. Wie würden Sie Ihr Image beschreiben?

Mich interessiert die Gegensätzlichkeit von Anmut und Obszönität, Intelligenz und Absurdität.

Und Ihren Künstlernamen?

Als ich mit 18 Jahren als Künstler angefangen habe, war ich Go-go-Tänzer. Ich war eher schlank und mag das auch so, aber damit kommt man nicht weit. Diese Branche wird von muskelbepackten Männern dominiert, die selten tanzen können, dafür aber oft mit Anabolika nachhelfen. Der Name drückt meinen Hohn diesem Zustand gegenüber aus. Außerdem funktioniert Anna Bolika als russischer Name – und meine russische Herkunft ist ein Hauptelement des Charakters.

Woher stammen Sie genau?

Anna Bolika kommt von der Halbinsel Kamtschatka, einer der abgelegensten Ecken Russlands, Heimat der größten Bären und vulkanisch hoch aktiv. Das passt extrem gut zu Anna, ein einfaches Mädchen vom Arsch der Welt, gekommen, um sie zu erobern. Tatsächlich bin ich in Tomsk geboren. Das liegt auch am Arsch der Welt, ist aber immerhin eine Großstadt mit Universität und Industrie.

Wann haben Sie Ihre Heimat verlassen, was war der Grund dafür?

Mit drei Jahren. Weil die Familie meines Vaters Nachfahren von Wolgadeutschen sind, hatten wir durch das Spätaussiedlergesetz die Möglichkeit, nach Deutschland auszuwandern. Meine Mutter hat alles aufgegeben, sie war bereits als Fachärztin für Augenheilkunde anerkannt, und ihre Familie blieb dort. Unterm Strich sind wir mit der Entscheidung aber alle sehr glücklich.

Aufgewachsen sind Sie in einer Kleinstadt im südlichen Nordrhein-Westfalen. Haben Sie Diskriminierungen erlebt? Immerhin ist das katholische Bonn um die Ecke …

Ich hatte sehr lange gebraucht, bis ich überhaupt die Möglichkeit akzeptierte, dass ich schwul sein könnte, obwohl es alles um mich herum bereits wussten. Bis dahin waren meine Kindheit und frühe Jugend nicht schön, inklusive aller Hänseleien, weil ich anders war, und meines ständigen Kampfes mit mir selbst. Als ich 16 war, kam ein offen lesbisches Mädchen in meine Klasse, ich habe mich mit ihr angefreundet. Sie war superbeliebt – „obwohl“ sie lesbisch war. Bald danach begann mein Coming-out, ich bin sehr selbstbewusst aufgetreten. Die Hänseleien lösten sich in Luft auf, und ich wurde einer der beliebtesten Schüler.

Verfolgen Sie die politische und gesellschaftliche Entwicklung Russlands? Wie beurteilen Sie diese, auch in Bezug auf LSBTTIQ?

Ja, wenn auch weniger intensiv, als ich gern würde. Die Berichterstattung hier ist leider sehr einseitig. Man versucht Putin als den ultimativen Bösewicht darzustellen, obwohl das Land unter ihm für viele Russen die bisher beste Version ist. Ich möchte anmerken, dass es dieses Russland erst seit 1991 gibt. Ferner hat jede Geschichte mindestens zwei Seiten. Was die Community angeht, ist sie dort genauso politischer Spielball wie hier und andernorts. Gleichberechtigung und Menschenwürde stehen in unser aller Verfassungen, trotzdem müssen sie immer noch diskutiert werden.

Ihre Kunstfigur Anna Bolika ist erst mit Anfang 20 nach Deutschland gekommen, sie spricht mit starkem russischem Akzent, ihr weißes Make-up erinnert an das mancher Russinnen. Ist Anna Bolika ein Klischee?

Ich spiele bewusst damit, vor allem weil es unterhaltsam ist. Ich habe viel Intelligentes zu sagen. Nach meiner Erfahrung hören die Leute aber nur zu, wenn es unterhaltsam verpackt ist.

Als Anna Bolika treten Sie vor allem auf Fetischevents im In- und europäischen Ausland auf. Wie ist die Atmosphäre auf diesen Veranstaltungen?

Vor allem geprägt von Akzeptanz und gegenseitigem Respekt. Alles passiert einvernehmlich. Jeder lebt sein authentischstes Ich aus, dazu gibt es gute Musik und viel zu sehen. Im Kern sind diese Fetischevents für mich ein Vorbild: Wenn wir uns so benehmen würden wie die Menschen dort, hätten wir weniger Probleme und mehr Spaß im Leben.

Ihr Amt als Miss*ter CSD macht Sie nun einem größeren Publikum bekannt. Mit welcher Botschaft treten Sie während der CSD-Saison auf? Die Ehe ist ja nun für alle geöffnet worden.

Allem voran kämpfe ich für und mit Quarteera e. V. für mehr Akzeptanz von LSBTTIQ im russischsprachigen Kulturraum. HIV-Aufklärung und -Prävention sind immer noch ein ak­tuel­les Thema, ebenso Suchtprobleme innerhalb der Community. Im Großen und Ganzen setze ich mich für mehr Für- und Miteinander unter den Menschen ein, vor allem aber in unserer Community.

Bei welchen Terminen kann man Sie erleben?

Zum Beispiel beim CSD, beim Benefiz-Sommerfest von Mann-O-Meter und auf der Gala der Berliner Aids-Hilfe.

Der diesjährige CSD ist ein besonderer, weil er in einem Wahljahr stattfindet, das Motto lautet „Mehr von uns – jede Stimme gegen Rechts“. Als wie gefährlich beurteilen Sie die rechten Strömungen in der deutschen Gesellschaft?

Studien besagen, dass zehn Prozent einer jeden Bevölkerung zumindest latent völkisch denkt – dagegen kann man wohl nichts machen. Den aktuellen Rechtsruck deute ich als Symp­tom einer generellen Unzufriedenheit mit der Politik, mit prekären Arbeitsverhältnissen, dem maroden Bildungssystem, einer unsicheren Rente. Politiker und Bürger sollten anfangen, zusammenzuarbeiten und nach Lösungen für die vielen ernsten Probleme unserer Zeit zu suchen, statt mit dem Finger auf vermeintliche Sündenböcke zu zeigen.