Berlin/Ankara

Außenminister Sigmar Gabriel wirft der Türkei vor, die Fundamente der Rechtsstaatlichkeit abzutragen

Autos und Flugzeuge, Textilien und Touristen

Ökonomie Mit keinem anderen Land treibt die Türkei so viel Handel wie mit Deutschland. Bisher haben sich die 6.000 deutschen Firmen im Land abwartend verhalten. Ihr Rückzug wäre ein schwerer Schlag für die eh schon kriselnde türkische Wirtschaft

Entschließt sich die EU zu ähnlichen Maßnahmen, ist die Türkei am Ende

BERLIN taz | Der Haftbefehl vom Montag für sechs MenschenrechtlerInnen in Istanbul scheint der letzte Tropfen gewesen zu sein: Die Bundesregierung spricht nun offen über wirtschaftliche Sanktionen.

Deutschland könne in einem Land, in dem es keine Rechtssicherheit gebe, die Rechte deutscher Staatsbürger oder Unternehmen nicht länger garantieren, sagte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD). Er stellte zudem die von der Türkei gewünschte Ausweitung der Zollunion mit der EU ausdrücklich infrage. Die Union ermöglicht der Türkei bisher bestimmte Steuerfreiheiten – aber nur für industrielle und verarbeitete Agrargüter. Die Türkei wollte diese Bedingungen längst neu verhandeln.

Der Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo­ğan bezeichnete Gabriels Aussagen als „Respektlosigkeit gegenüber der türkischen Justiz“ und versicherte Investoren: „Deutsche Unternehmen sind in der Türkei absolut sicher. Gab es bisher auch nur eine einzige Untersuchung gegen ein deutsches Unternehmen?“. Der Zweck von Gabriels Aussagen sei nur, einen Vorteil für die Bundestagswahlen herauszuschlagen. Die feindselige Einstellung gegenüber Erdoğan habe in Deutschland inzwischen „das Niveau von Verfolgungswahn“ erreicht.

Bislang war die sogenannte Flüchtlingskrise eine Karte, die Erdoğan ziehen konnte. Aber mit nahezu geschlossenen Grenzen und den möglichen Sanktionen könnte die türkische Wirtschaft, die sich schon lange im Niedergang befindet, in eine ausgewachsene Krise geraten.

Denn trotz stetigen Wachstums in den vergangenen zehn Jahre zeigt die türkische Wirtschaft seit zwei Jahren mehr und mehr Zeichen von Schwäche. Wegen der politischen Unsicherheit der Erdoğan-Regierung hat die türkische Lira mehr als 30 Prozent an Wert verloren, Inflations- wie Arbeitslosenrate sind über 10 Prozent gestiegen.

Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei mit einem bilateralen Handelsvolumen. Türkische Exporte im Wert von 12 Milliarden Euro machen Deutschland zum größten Exportpartner. Mit 18,5 Milliarden Euro an Importen in die Türkei kommt Deutschland gleich nach China auf dem zweiten Platz. Für Deutschland ist die Türkei auf dem 15. Platz, was die Exporte angeht, und auf dem 18. Platz für Importe.

In den letzten zehn Jahren haben beide Länder den Ausbau des Handelsvolumens gefördert. Wichtigste Güter für beide Länder sind Autos und Autoteile. Textilgüter folgen auf Platz 2 bei den türkischen Exporten, während aus Deutschland umgekehrt Flugzeuge, Pharmaprodukte und eine breite Palette an Maschinen geliefert werden.

Die ausländischen Direktinvestitionen wuchsen beständig in den ersten, politisch stabileren Jahren der AKP-Regierung. 2013 investierten deutsche Firmen noch 1,6 Milliarden Euro in der Türkei, 2016 waren es nur noch 341 Millionen. Türkische Firmen machten im Jahr 2016 umgekehrt 102 Millionen Euro Gewinn in Deutschland.

Neben dem bilateralen Handel waren deutsche Touristen eine sehr große Einnahmequelle für die Türkei. Nach den Terrorattacken und dem Putschversuch 2016 lag die Zahl nur noch bei 4 Millionen, im Vorjahr waren es 5,6 Millionen. Da nach dem Abschuss eines russischen Militärjets durch die Türkei auch das Verhältnis dieser beiden Länder gestört war, verlor die Türkei insgesamt rund 30 Prozent aller Touristen. Nach Gabriels Statement von Donnerstag dürfte die Zahl der Türkeireisenden noch weiter sinken.

In der Türkei gibt es 6.000 deutsche Firmen – mehr als in jedem anderen Land. Bisher haben sie abgewartet, wie sich die Lage entwickelt. Nehmen Sie nun die Ankündigungen der Bundesregierung ernst, könnten sie ihre Geschäfte in andere Länder verlagern.

Umgekehrt gibt es in Deutschland 100.000 Firmen mit türkischen oder türkischstämmigen Besitzern – mit insgesamt 500.000 Beschäftigten. Ob sie unter dem Zwist der beiden Regierungen leiden, ist unklar. Aber Aziz Sarıyar, Chef der Europäisch-Türkischen Industrie- und Handelskammer Atiad, hatte bereits im März auf eine Deeskalation gehofft.

All diese Zahlen zeigen, dass die Türkei derzeit viel mehr zu verlieren hat als Deutschland. Sollte sich die Europäische Union, in der die Türkei fast die Hälfte all ihrer Exporte absetzt, zu ähnlichen Maßnahmen entschließen, wäre das das Ende der türkischen Wirtschaft.

Ali Çelikkan