… und Rudolf Heß ist auch noch da

NS-Erbe II In Berlin wollen am Samstag Neonazis für Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß aufmarschieren

Ideologisch ungebrochen: Rudolf Heß Foto: picture alliance

BERLIN taz | Aus dem ganzen Bundesgebiet, möglicherweise sogar aus anderen europäischen Ländern, wollen Neonazis am Samstag an den Berliner Stadtrand reisen, nach Spandau. Dorthin, wo vor 30 Jahren ihre Ikone starb: Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Für die Hauptstadt könnte es einer der größten Neonazi-Aufmärsche der vergangenen Jahre werden. Nun formiert sich Gegenprotest.

Die rechtsextreme Szene will mit ihrem Marsch einen Mythos pflegen: dass Heß am 17. August 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis ermordet worden sein könnte. „Mord verjährt nicht“, lautet ihr Auf­marsch­aufruf. Angemeldet sind 500 Teilnehmer. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin hält aber mehr als 1.000 Teilnehmer für möglich.

„Rudolf Heß hat weiterhin eine sehr hohe Symbolkraft für die rechtsextreme Szene“, sagt auch Peter Smolinski vom Berliner Bündnis gegen Rechts. „Dieser Heldenmythos ist geeignet, um das zersplitterte rechtsextreme Spektrum zu einen.“ Für den Aufmarsch mobilisieren neben der NPD auch diverse Kameradschaften und das Spektrum der Autonomen Nationalisten. Das Bündnis gegen Rechts organisiert eine Gegendemonstration in Spandau, zu der auch Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen sowie diverse Politiker von SPD, Grünen und Linken aufrufen.

Tatsächlich wähnt sich die rechtsextreme Szene momentan im Aufwind. Notierte der Bundesverfassungsschutz im vergangenen Jahr noch einen Rückgang von 690 auf 446 Aufmärsche, versammelte sich Neonazis zuletzt im thüringischen Themar zu zwei Großevents: Im Juli trafen sich dort einmal 6.000 und einmal 1.000 Rechtsextreme zu Szenekonzerten.

Und: Rudolf Heß ist schon seit Jahrzehnten ein Zugpferd der Szene. Im bayrischen Wunsiedel zogen Neonazis jahrelang zum Grab der NS-Größe. 2005 verbot die Stadt die Aufzüge, später wurde das Grab eingeebnet. Dennoch: Die Szeneverehrung für den vermeintlichen Märtyrer setzt sich fort. Zuletzt provozierten die Verteidiger eines Angeklagten im NSU-Prozess und beantragten ausgerechnet dort, festzustellen, dass Heß ermordet worden sei.

Als „guten Nazi“ würde die Szene Heß bis heute verehren, sagt Manfred Görtemaker, Historiker an der Uni Potsdam, der seit Jahren zu Heß forscht. „Das ist natürlich absurd.“ Zwar sei Heß stets bieder aufgetreten. „Aber er war als Hitlers Stellvertreter für die gesamte Rassengesetzgebung mitverantwortlich, das lief alles über seinen Schreibtisch.“

Die Mordthese nennt Görtemaker „pure Spekulation“. Im Nürnberger Prozess, in dem Heß sich ideologisch ungebrochen präsentierte, wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt und in Spandau inhaftiert. Laut den Alliierten starb er 1987, indem er sich mit einem Verlängerungskabel an einem Fenstergriff erhängte. Heß’ Familie behauptet dagegen, der damals 93-Jährige sei von alliierten Agenten ermordet worden.

„Es gibt weder für das eine noch für das andere den letzten Beweis“, sagt Historiker Görtemaker. Er selbst aber halte die Selbstmordthese für überzeugend, da Heß schon zuvor Suizidversuche unternommen und keine Entlassungsperspektive hatte. „Aber es bleibt eine Grauzone, und die nutzen die Rechtsextremen aus.“

„Mord verjährt nicht“, lautet der Aufruf zumGedenkmarsch

Wenn die Neonazis am Samstag nach Spandau ziehen, werden sie die frühere Arreststätte ihres Idols allerdings nicht mehr antreffen. Sie wurde bereits 1987 abgerissen, kurz nach dem Tod von Rudolf Heß.

Malene Gürgen, Konrad Litschko