Vertreibung zum Erfolg

Zu wenig kritische Distanz: Das Westfälische Industriemuseum in Dortmund zeigt bei „Aufbau West-Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“ über 50 Individualgeschichten

AUS DORTMUNDJOHANNES SCHNEIDER

Manfred Grünwald steht in seinem roten Ausstellungs-Würfel und blickt auf das, was von seiner Kindheit geblieben ist. Ein Kruzifix und ein Wandteppich sind die einzigen Gegenstände, die den 64-Jährigen noch an seine sudetendeutsche Herkunft erinnern. Für den Verlust wurde er entschädigt. Der Weg des Sohns nord-böhmischer Weberei-Arbeiter zum Betriebsleiter einer Textilfabrik in Tönisvorst ist Teil der Ausstellung „Aufbau West-Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“, die ab Sonntag im westfälischen Industriemuseum „Zeche Zollern“ in Dortmund zu sehen ist.

„Uns geht es um den Beitrag der Heimatvertriebenen am Wiederaufbau in NRW“, sagt Dagmar Kift vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Die Flucht selbst, das Unverständnis der Flüchtenden, die revanchistische Haltung der Vertriebenenverbände – all das sei kein Thema oder nur am Rande, „denn das würde uns immer wieder auf die Stunde Null zurückwerfen“. Den Ausstellungsmachern geht es um Individualgeschichte, erzählt von über 50 Einzelpersonen. Schon die Ausstattung zeigt, wie mit ihnen umgegangen wird: In kleinen roten Würfeln, „Häuschen“ genannt, erhalten die Lebensgeschichten jeweils ein eigenes „Reich“. Viel Raum für kritische Distanz bleibt da nicht, die würde auch dem Lebensgefühl der Zeitzeugen widersprechen. „Sie haben sich doch alle nur als Opfer empfunden“, sagt Kift. Letztlich sei es für die Opfer immer das böse Schicksal, das sie rausgeworfen habe.

Wenn man die tatsächlichen Geschichten dann betrachtet, scheint das Schicksal gleich weniger böse. Zehn Millionen Menschen verließen die Gebiete östlich von Oder und Neiße, 2,5 Millionen von ihnen landeten in NRW. Dort machten sie einfach weiter, wo sie vor 1945 aufgehört hatten: Die Arbeiter arbeiteten und die Industriellen errichteten unter gleichem Namen die Werke neu, die sie früher besessen hatten. So zog die gesamte deutsche Textilindustrie von Böhmen nach Krefeld und Gelsenkirchen. Mit ihr zog damals auch Manfred Grünwald. Die eigene Vertreibung sieht er gelassen. „Das muss man abhaken“, sagt er. Dass die Sudetendeutschen schon seit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 Unrecht litten, ist ihm aber wichtig. Und dass da 1938 „Heim ins Reich!“ gerufen wurde, sei doch nur verständlich. Grünwald lächelt verlegen. Der sympathische Mann und die problematische Aussage stehen in krassem Widerspruch.

Was ist da schief gelaufen in Sachen Vergangenheitsbewältigung? Vor solchen und ähnlichen Fragen drückt sich die Ausstellung. Stattdessen erzählt sie Geschichten von Webern, die Betriebsleiter wurden und Maurern, die jetzt Lehrer sind: Erfolgsgeschichten, wie sie jetzt gebraucht werden. So hängen im Eingangsbereich auch Köpfe von Prominenten: Günter Grass aus Danzig, Horst Köhler aus dem ukrainischen Wolhynien und Peter Maffay aus Siebenbürgen.

Bis 26. März 2006Infos: 0251-59101