Im Exil auf einem Mohnsamen

Entschleunigt leben: Jürg Halters Gedichtsammlung „Ich habe die Welt berührt“

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Mensch hat einen Hau. Aber einen von der guten Sorte. Einen, der mit Selbstbewusstsein, Chuzpe und kreativem Freiraum einhergeht. Jürg Halter heißt er, ist 25 Jahre jung, Dichter und Schweizer. Berner, um genau zu sein. Das ist nicht unwichtig; denn er kultiviert bei seinen Auftritten das Klischee des entschleunigten Hauptstadtschweizers (selbst auf poetry slams, wo Schnelligkeit und Schlagfertigkeit oberstes Gebot sind). Er stammt also aus der Spoken-word-Szene und legt jetzt seinen ersten „ordentlichen“ Gedichtband vor.

„Ich lebe im Exil auf einem Mohnsamen, zwischen den Zähnen eines Menschen, der gleich zu Bett gehen würde/ sich jedoch vorher noch zur Toilette begibt.“ Das ist schon eine eigenartige Ortsbestimmung, und es gibt in diesem Band noch mehr davon: „Ich ziehe mich in deine Ohrmuschel zurück und/ schaue hinein“ oder „Ich bin da, wo die Avantgarde schon war“. Lyrische Gemeinplätze und Abgeschmacktes findet man hier nicht. Stattdessen aber mitunter Exaltiertes und arg Verschraubtes. Der Wille zur Originalität geht halt gelegentlich zulasten der Geschmeidigkeit. Doch sonst: ein bisschen Dada, Surreales und viel originärer Halter. Man weiß selten so recht, worum es eigentlich geht, außer vielleicht dieser wiederholten Verortung, wird dabei aber ganz schnurrig unterhalten.

Zentral bleibt zumeist ein ominöses „Ich“, das sich in kaum einem Lyrikband der letzten Jahre vehementer zur Sprache gebracht hat. Bis hin zu einem Geburtstagsgedicht, das Halter sich kurzerhand selbst widmet: „Spatenstich/ ohne dich“. Wenn nun gerade hier das direkte Ich vermieden wird, kann man davon ausgehen, dass es sich beim Ich in den übrigen Texten eben nicht um das altbekannte „Lyrische“ handelt. Um welches aber dann? Wir wollen nicht annehmen, dass etwa „Ich, ein Blatt.// Im Laubhaufen/ werde ich auf das Mitleid der natürlichen Zersetzung/ still singend abzielen“ ein autobiografisches Notat darstellt. Eher ein Spiel mit poetischen Haltungen und ein beständiges Unterlaufen von Klischees.

Das kann schon mal in einem veritablen Liebesgedicht enden oder in einer Art von poetischem Reisetagebuch, wie im überaus gelungenen, titelgebenden Langgedicht „Ich habe die Welt berührt“. Ironiefrei aber ist hier keine Zeile: „In Deutschland in der Imbißbude des Türken: ich ahne die Schönheit der Türkei:/ Wasser, blaues, Strände, weiße, Tränen aus Türkis und der Döner Kebab:/ Deutschland“. Und auch die Langsamkeit erweist sich schließlich hier als reine Pose: „In Paris, in der Metro schreibe ich ein Gedicht: bis zum nächsten Halt muß es fertig sein“. Na dann aber mal hurtig. NICOLAI KOBUS

Jürg Halter: „Ich habe die Welt berührt“. Ammann, Zürich 2005, 96 Seiten, 16,90 Euro