heute in hamburg
: „Innenpolitische Wende“

Erinnerung Über 40 Jahre Deutscher Herbst diskutiert Oliver Tolmein mit weiteren Zeitzeugen

Oliver Tolmein

Foto: privat

55, Anwalt für Medizinrecht, war von ’86 bis ’89 taz-Redakteur und hat mehrere Bücher über die RAF geschrieben.

taz: Herr Tolmein, Sie diskutieren heute über 40 Jahre Deutscher Herbst. Was war da los?

Oliver Tolmein: Die Rote Armee Fraktion (RAF) hatte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt, um die Freilassung von Inhaftierten der RAF zu erpressen. Die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu sollte der Forderung Nachdruck verleihen. Die Bundesrepublik wurde von einem Krisenstab regiert. Am 19. Oktober meldeten die Medien, die sich wochenlang einer Nachrichtensperre unterworfen hatten, die Befreiung der Passagiere durch die GSG9 und den Tod von drei RAF-Gefangenen in Stuttgart-Stammheim, eine war schwer verletzt.

Was passierte politisch?

In der Folge gab es eine bis dahin in der Bundesrepublik beispiellose Fahndung, verbunden mit einer Mobilmachung gegen sogenannte Sympathisanten, zu denen Theaterleute gehörten, linke Buchhändler, Theologen – kurz alle, die es wagten, ihre Staatskritik nicht aufzugeben.

Wie haben Sie das erlebt?

Ich war damals 15, in der Jungen Union und lebte im Internat. Ich erinnere mich, wie beim Frühstück der Tod der Gefangenen in Stammheim bekannt wurde. Es brach großer Jubel aus.

Was ist 40 Jahre später wichtig an dieser Zeit?

Erst mal die Zeit selber. Die Politik des Krisenstabs zum Beispiel ist bis heute nicht aufgeklärt. Die vollständigen Protokolle sind unter Verschluss. Die Bundesrepublik hat sich damals innerhalb weniger Tage in einen Ausnahmezustand versetzt.

Wie zum Beispiel?

Für 129a-Gefangene gab es eine totale Kontaktsperre. Selbst Anwälte konnten nicht zu ihren Mandanten – obwohl es ihnen der BGH erlaubt hatte. Das innerhalb kürzester Zeit beschlossene Kontaktsperre-Gesetz gibt es noch heute.

Gehört das auf den Prüfstand?

Das ist vielfach gefordert worden, vor allem von den Grünen.

Was interessiert Sie heute am Deutschen Herbst?

Der Herbst von 1977 bewirkte eine innenpolitisch Wende in der BRD. Die Grünen oder die taz hätte es ohne den Deutschen Herbst nicht gegeben. Heute ist manches von damals verblasst. Die RAF hat sich aufgelöst. Wir haben Terror von rechts und von islamistischen Gruppen. Wir leben heute insoweit in gefährlicheren Zeiten. Aber der Staat reagiert anders. Und die Gesellschaft ist auf andere Weise erstarrt.

Sehen Sie Parallelen zur Reaktion auf die G20-Proteste?

Da gab es auch Polizeigewalt. Aber weder der Protest noch die Polizeieinsätze haben die Gesellschaft verändert. Interview: KAJ

„Ein Staat sieht rot – 40 Jahre Deutscher Herbst“. Podiumsdiskussion mit Jutta Ditfurth, Knut Folkerts und Oliver Tolmein, 20 Uhr, Politbüro, Steindamm 45, Eintritt 15 Euro, erm. 10 Euro