Kochen, Kümmern, Kopfschmerzen

FAMILIE In „Als Mutter verschwand“ zeigt die Koreanerin Kyung-Sook Shin, wie universell eine persönliche Geschichte sein kann

Ihre Kinder sollten es besser haben, vor allem der Älteste, Staatsanwalt sollte er werden

VON DANIELA ZINSER

Irgendwann hat es aufgehört. Das Hinhören, Hinsehen. Das Interesse, das Feingefühl. Die Anrufe wurden zur Routine, die Besuche auch. Die Antworten, die Reaktionen – mechanisch. Der Alltag entfernte all jene von dieser Frau, die ihr Leben lang für sie gekocht, geputzt, gepflanzt, geerntet, geliebt hatte. Und irgendwann ist diese Frau einfach weg.

Ihr Mann verliert sie am Hauptbahnhof in Seoul. Sie wollten die U-Bahn nehmen zu ihrem Sohn. Aber der Mann war zu schnell, ohne auf sie zu achten. Wie immer. Tage, Wochen, Monate lang suchen sie sie, mit Flugblättern, Anzeigen, endlosen Touren durch die südkoreanische Hauptstadt. Die vier längst erwachsenen Kinder und der Mann. Und erst im Verlust beginnen sie alle wieder hinzusehen, hinzuhören, wenn die Erinnerungen in ihnen flüstern und die Worte wiederholen, die die Frau einst sagte, die damals nur Hintergrundrauschen waren.

Wer war diese Frau?

Die Koreanerin Kyung-Sook Shin hat mit „Als Mutter verschwand“ einen Roman geschrieben, der einen packt. Am schlechten Gewissen, an der Sehnsucht. Er erzählt meisterlich, nostalgisch und dabei nie verkitscht von Mutterliebe, von Entsagung und Reichtum, von Familienopfern und -wurzeln. In Korea war das Buch ein Bestseller, es ist in mehr als 20 Ländern veröffentlicht worden, und Kyung-Sook Shin gewann dafür im vergangenen Jahr als erste Frau den Man Asian Literary Prize.

Sehr persönlich ist diese Geschichte, die Autorin, 1963 auf dem Land geboren, schreibt über ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Das ärmliche, dörfliche Leben in Südkorea spielt eine große Rolle, die typischen Speisen, die Traditionen wie das Ahnenritual als Opfer für die Toten. Man wird tief hineingezogen in diese von koreanischer Kultur geprägte Geschichte, die doch so universell ist. „Wann hast du zum letzten Mal deine Mutter angerufen?“, flüstert es beim Umblättern der Seiten, wenn erst die Kinder, dann der Mann verzweifelt in Erinnerungen suchen nach einer Antwort auf die Frage: Wer war diese Frau?

Diese Frau, die Mutter, ist die Erzählerin. In der Du-Perspektive spricht sie sie an: die Tochter, den Mann. Nur beim ältesten Sohn ist es die dritte Person Singular, das „Er“, ein ehrfurchtsvolles. Jeweils ein Kapitel ist ihnen gewidmet, bis die Mutter selbst spricht. Nun redet sie von „ich“, nicht mehr von „Eure Mama“ wie zuvor.

„Du warst gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie auch einmal laufen gelernt haben, einmal drei, zwölf oder zwanzig Jahre alt gewesen sein musste. Mama war Mama. Sie war als Mama zur Welt gekommen.“ „Du“ ist hier die älteste Tochter, eine Schriftstellerin, nicht verheiratet, kinderlos. Mit ihren Reisen, den Partys, der Unabhängigkeit ist ihr Leben so fern von dem der Mutter.

Es ist eine einfache, eindringliche Sprache, manchmal wie ein Mantra, die tagtägliche Wiederholung von Kochen, Kümmern, Kopfschmerzen, die das Leben der Mutter prägte. Die Geschichte fächert sich langsam auf, so wie die Erkenntnis sich entblättert, wenn die Katastrophe, der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen, den Alltag unmöglich macht und zum Hinsehen, Hinhören zwingt.

Von Reue erfüllt ist die Tochter, wegen all der stereotypen Gespräche, der schroffen Antworten, des „Nein, ich kann gerade nicht“. Ihr Leben in der Stadt ist gekonnt dem der Mutter gegenübergestellt, die nie Lesen gelernt hat, sich mit der arrangierten Ehe arrangierte und fast alle Zeit auf dem Feld oder am Herd verbrachte. Ihre Kinder sollten es besser haben, vor allem der Älteste, Staatsanwalt sollte er werden. Er hat es nicht geschafft, verkauft Wohnungen nun und kämpft nach dem Verschwinden der Mutter mit dem schlechten Gewissen.

So tut es auch der Vater, der oft ausbrach und wochenlang wegblieb, wenn er die Familienenge nicht mehr ausgehalten hat. „Deine Frau, die du fünfzig Jahre lang vergessen hattest, war plötzlich in deinem Herzen lebendig. Erst als sie verschwand, wurde sie für dich eine reale Person.“ Erst jetzt spürt er Liebe.

Das Kapitel, in dem die Mutter selbst spricht, ist das stärkste im Buch. Alles ist dort zusammengefasst. Hat sie ein ganz anderes Leben gelebt? Viel kann man bei der Lektüre über das Muttersein lernen, darüber, wie viel in so einem einfachen Dasein steckt, und viel aber auch über sich selbst. Über die Frage: Was ist wichtig im Leben? Eine Antwort gibt schon das Zitat des Dichters Ferdinand Freiligrath, das dem Roman vorangestellt ist: „O lieb, solang du lieben kannst.“

Kyung-Sook Shin: „Als Mutter verschwand“. Aus dem Englischen und Französischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Piper Verlag, München 2012, 256 Seiten, 19,99 Euro