Kiwis kämpfen gegen das „Ausbluten“

Neuseelands rot-rot-grüne Regierung senkte die Arbeitslosigkeit, muss aber Wahlniederlage fürchten

WELLINGTON taz ■ Greytown nördlich der neuseeländischen Hauptstadt Wellington ist ein nettes Dorf. Vor einigen Jahren erlebte das einst verschlafene Nest eine Renaissance. Viel Geld floss in die Renovierung alter Häuser. Neue, luxuriöse Pensionen entstanden, Spitzenköche kamen, der Tourismus florierte. Heute ist Greytown ein Mekka für Genießer aus der Hauptstadt. Es hat nur ein Problem: das Dorf macht seinem Namen allzu große Ehre. Fast alle Bewohner und Besucher haben graue Haare. Jugendliche und junge Erwachsene sind kaum zu sehen. Die sind in Australien.

Die Abwanderung von wöchentlich 630 meist jungen NeuseeländerInnen ins Nachbarland ist vor den Parlamentswahlen an diesem Samstag der größte Zankapfel. Die seit 1999 regierende Labourpartei von Premierministerin Helen Clark und ihr Herausforderer Don Brash von der oppositionellen Nationalpartei versuchen verzweifelt, die Wähler davon zu überzeugen, sie könnten den Verlust qualifizierter Arbeitskräfte stoppen. Noch so ein Jahr wie 2004, als über 20.000 Menschen das Land verließen, würde den Vier-Millionen-Staat „ausbluten“, schreibt David Beatson in dem Wirtschaftsblatt The Independent.

Clark und Brash haben ähnliche Rezepte gegen die Abwanderung: Ankurbelung der Wirtschaft durch Steuersenkungen. Labour mit seinen 52 Sitzen im Einkammerparlament offeriert Steuererleichterungen für Familien. Die Nationalpartei mit 27 Sitzen verspricht Senkungen von zehn Prozent. Gut Verdienende sollen am besten abschneiden. Umfragen sehen Nationalpartei und Labor Kopf an Kopf. Dass Ex-Notenbankchef Brash überhaupt so weit kam, hat Clark alarmiert. Bis vor kurzem galt ihre Wiederwahl noch als sicher.

Einen Grund für einen Wechsel von den Sozialdemokraten, die von den Grünen und einer linken Labour-Abspaltung unterstützt werden, zu den Konservativen gibt es auf den ersten Blick nicht. Neuseeland entwickelte sich unter der hölzernen Clark gut. Sechs Jahre Wirtschaftswachstum senkten die Arbeitslosenquote auf 3,5 Prozent, den niedrigsten Wert in der OECD. Wellington pumpte Geld in die Unterstützung von Familien, in Ausbildungs- und Gesundheitsprogramme, kontrollierte aber die Kosten, sodass es Budgetüberschüsse von vier Millionen Euro gibt.

Das chronisch gestörte Verhältnis zwischen der weißen Bevölkerungsmehrheit und den 15 Prozent indigenen Neuseeländern, den Maoris, verbesserte sich dank einer auf Versöhnung ausgerichteten Politik. Zugleich verweigerte sich Clark – einst marxistische Studentenaktivistin und später Unidozentin – Washingtons Druck zur Teilnahme am Irakkrieg, womit sie der Mehrheit der vier Millionen Landsleute entsprach.

Dass trotzdem viele Kiwis, wie die Neuseeländer sich selbst nennen, mit einer Alternative liebäugeln, hat trotzdem mit den wirtschaftlichen Bedingungen zu tun. Die sind auch die Hauptursache für die Abwanderung nach Australien. Denn die rund 415.000 Neuseeländer im Nachbarland – was 15 Prozent der werktätigen Bevölkerung Neuseelands entspricht – verdienen dort rund 30 Prozent mehr als zu Hause. Trotz radikalster Wirtschaftsliberalisierung in den 80er-Jahren stiegen Produktivität und Löhne nicht wie erhofft. Zwar hat das einst fast sozialistische Agrarland heute eine vielfältige, international konkurrenzfähige Industrie. Doch Steuerreformen allein werden die Auswanderung junger Menschen nicht aufhalten können.

Deshalb appelliert Brash auch an den wachsenden Unmut unter den europäischstämmigen Neuseeländern. Viele beklagen den Grad staatlicher Unterstützung für Maoris. Gleichzeitig schrumpft wegen der Auswanderung die Zahl der weißen Kiwis. Viele fürchten, zur Minderheit zu werden. Im Duett mit der rechtskonservativen Partei New Zealand First verspricht Brash, alle Maori-spezifischen Regierungsdienste abzuschaffen. Die Allianz mit NZ First und ihrem rassistisch polemisierenden Führer Winston Peters könnte Brash aber auch Stimmen kosten. Schließlich trauen auch viele Neuseeländer dem ruhigen Gentleman alter Schule nicht. Sie fürchten, Brash könnte die unpopulären neoliberalen Wirtschaftsreformen wiederbeleben, die Neuseeland vor zehn Jahren für tot erklärte.

URS WÄLTERLIN