Wenn der Staat beim Pauken hilft

NACHHILFE Wer in Deutschland soziale Leistungen empfängt, kann seine Kinder auch neben der Schule
fördern lassen. Das gilt auch für viele Geflüchtete. Davon profitieren private Nachhilfeinstitute

Start in das deutsche Schulsystem: In Willkommensklassen werden Flüchtlingskinder gesondert unterrichtet, bis sie ausreichend Deutsch sprechen Foto: Markus Schreiber/ap

Aus Berlin Maike Brülls

Es ist ein recht kleiner Raum, und doch wird ihn ihm eines der größten Versprechen der deutschen Politik umgesetzt: Angela Merkels „Wir schaffen das“. Ein schlichter Tisch steht darin, Stühle, an der Wand eine Tafel, daneben ein kleines Waschbecken. Sieht aus wie ein Miniatur-Klassenzimmer. Und in gewisser Weise ist es das, denn hier in den Räumen des Studienkreises Berlin Märkisches Viertel wird Nachhilfe gegeben – und zwar auch Flüchtlingskindern.

2015 flohen fast eine Million Menschen nach Deutschland, darunter auch zwischen 325.000 und 350.000 schulpflichtige Kinder. Um sie schnell in das Schulsystem zu integrieren, wurden spezielle Klassen geschaffen, die je nach Bundesland Vorbereitungs-, Deutschlern-, oder Übergangsklassen heißen. Dort lernen die Schüler*innen für eine bestimmte Zeit Deutsch und Grundlagen für andere Fächer. Wenn sie fit sind, dürfen sie in die Regelklassen. Allein in Berlin wurden 1.051 Willkommensklassen, wie sie hier heißen, eröffnet. Vor den Sommerferien lernten dort 12.524 Kinder. Dringend wurden dafür Lehrer*innen gesucht, vor allem für die Fächer Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache. Statt geschulter Fachkräfte übernahmen Pensionär*innen und Studierende den Deutschunterricht – und private Nachhilfeinstitute wie das von Andreas Janitzek im Norden Berlins.

Drei Viertel mit Gutschein

20 bis 30 Flüchtlingskinder, schätzt der Filialleiter des Studienkreises im Märkischen Viertel, einer Wohnsiedlung im Bezirk Reinickendorf, kommen zu ihm in die Nachhilfe. Insgesamt sind es rund 240 Schüler*innen. „Ich frage zwar nie nach, ob jemand, der zu mir kommt und gebrochen Deutsch spricht, geflohen ist“, sagt Janitzek. „Aber meistens kriegt man es mit, weil die Kinder davon erzählen.“

Der Studienkreis ist einer der landesweit größten Nachhilfeinstitute. Allein in der Hauptstadt gibt es nach eigenen Angaben fast 50 Nachhilfeschulen. Und viele seiner Kund*innen müssen ihre Nachhilfe nicht selbst bezahlen. Sie erhalten vom Staat Lernförderung, wie das Angebot für Schüler*innen im Amtsdeutsch heißt. Sie steht nach dem Gesetz denjenigen zu, die versetzungsgefährdet sind. Also allen Schüler*innen, die sitzenbleiben könnten. Das muss die Schule bestätigen, indem sie einen Zusatzbogen für die ergänzende Lernförderung ausfüllt. Welche Leistungen sie jedoch an ihre Schüler*innen verteilen darf, entscheidet die Kommune. Abgerechnet werden die Leistungen über das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket, kurz BuT, das auch Flüchtlinge in Anspruch nehmen können (siehe Kasten).

Ein ganzer Stapel dieser Bögen liegt auf dem Tisch von Studienkreis-Fillialleiter Janitzek. 75 Prozent seiner Schüler*innen, sagt er, würden über das Bildungspaket gefördert. Viele Kinder hier stammen aus Migrant*innenenfamilien, oft sind die Eltern arbeitslos. Das Märkische Viertel sei da aber eine Besonderheit – nicht in allen Studienkreis-Filialen sind so viele über das BuT da. Profitiert das Nachhilfeinstitut also durch die staatliche Förderung der Flüchtlingskinder? Nach einer Studie der Böckler-Stiftung verdient die Branche jährlich vier Milliarden Euro an Nachhilfe – auch dank des Förderbedarfs von Zuwandererfamilien (siehe Spalte). Für seine Filiale verneint Janitzek diese Frage. „Es ist marginal, was da gekommen ist“, sagt Janitzek. „In den letzten zwei Jahren hat sich nicht wesentlich was geändert.“ Gleiches beschreibt Max Kade, der beim Studienkreis für die Projekte Bildung und Teilhabe sowie Nachhilfe für geflüchtete Kinder und Jugendliche verantwortlich ist, für ganz Deutschland: „Es sind im Moment zwar mehr Flüchtlingskinder an den Schulen. Da die aber erst mal andere Förderungen durch die Schule erhalten, kommen sie bei uns noch nicht an.“ Dass Geflüchtete in den Willkommensklassen besonders unterrichtet werden, wirkt sich also aus: Die Beschulung der Flüchtlingskinder merke der Studienkreis noch nicht in seinem Geschäft, so Kade.

Dass ein Gros der Nachhilfe oft schulnah und nicht in privaten Instituten umgesetzt wird, sagt auch Jan Horn vom Lernwerk Berlin: „In Berlin haben Schüler nicht die Möglichkeit, sich ihre Nachhilfeschule auszusuchen. Man muss das nehmen, was in der Schule angeboten wird. Und das ist im geringsten Teil eine Nachhilfeeinrichtung.“ Dennoch hat Studienkreis-Fillialleiter Andreas Janitzek mit etwa 20 Schulen Kooperationsverträge abgeschlossen. „Das ist vom Senat so vorgeschrieben und die Grundlage dafür, dass eine Schule Schüler zu uns schicken kann.“ Jahr für Jahr muss er die erneuern. Zwar würde er für Schüler*innen, die durch BuT gefördert werden, deutlich weniger pro Nachhilfestunde bekommen als für andere, sagt Janitzek. Ob und wie viel er an den BuT-Schüer*innen noch verdient, will er jedoch nicht sagen. Dennoch scheint der Umsatz all die Arbeit wert zu sein.

Ministerium ahnungslos

Wie viel Geld aus der Staatstasche an private Nachhilfeinstitute wandert, um die Versetzung der Geflüchteten zu gewährleisten, ist kaum zu ermitteln. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales räumt ein, dass die Statistiken über Leistungen für Bildung und Teilhabe „Datenlücken und Untererfassungen“ aufweise. Der Grund dafür sei, heißt es aus dem Ministerium, dass die zuständigen Kommunen die Leistungen unterschiedlich verteilten, zum Beispiel als Geld- oder Sachleistung, Gutscheine oder Kartensysteme. Ein weiteres Problem: Die Leistungen des Bildungspakets werden im Zusammenhang mit unterschiedlichen anderen Sozialleistungen vergeben – und auch hier in unterschiedlichen Statistiken gesammelt. Als Geflüchteter empfängt man Leistungen entweder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder nach dem Sozialgesetzbuch, je nach Status.

Wer hat Anrecht auf BuT? Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde 2011 eingeführt, um Kindern und jungen Erwachsenen aus Familien mit geringem Einkommen Zugang zu Lernmöglichkeiten sowie sozialen und kulturellen Aktivitäten zu ermöglichen. Anrecht hat, wer soziale Leistungen bezieht, sei es als Arbeitsuchender, bei Sozialhilfe, bei Wohngeld, Kinderzuschlag oder als Asylbewerber*in.

Wie viel Geld fließt? Im März 2017 erhielten knapp 5.000 Kinder und Jugendliche Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz waren es im 1. Quartal ca. 143.000, 5.402 erhielten Lernförderung. Insgesamt gaben die Kommunen dafür 2,6 Millionen Euro aus.

Das Statistische Bundesamt hat zwar Zahlen zu den BuT-Empfängern. Ob eine Person nun eine Förderung wegen ihres Status als Geflüchtete bekommt oder aus einem anderen Grund, ist aber nicht erfasst. Auch liegen keine Statistiken aus dem Vorjahr vor. Auch die zuständigen Länderministerien winken ab: Genaue Zahlen, wie sich die Ausgaben für die Lernförderung mit der Ankunft der Geflüchteten verändert haben und wie viel Geld an private Nachhilfeinstitute geht, gebe es nicht.

Wo sich Ministerien und Pädagog*innen jedoch im Klaren sind: Ohne die vielen ehrenamtlichen Initiativen müssten sie noch viel mehr Geld ausgeben. „Viele ehemalige Lehrkräfte geben Nachhilfe für Schülerinnen und Schüler“, sagt etwa Udo Beckmann, Bundesvorsitzender der Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung (VBE). Das sei kurzfristig eine Lösung. Mittelfristig müssten Schulen aber so ausgestattet sein, dass sie auch auf diese Bedarfe eingehen können. Die staatlich geförderte Nachhilfe ist für Beckmann ein Zeichen dafür, dass die Ressourcen in den Schulen für individuelle Förderung nicht ausreichen. Er sieht den Staat in der Pflicht, „eine ausreichende Finanzierung zu sichern und auch zusätzlich notwendige Förderung bereitzustellen“.

Der Befund vieler Bundesländer zum neuen Schuljahr gibt Beckmanns Forderung Gewicht: Es fehlen Lehrkräfte selbst für den eigentlichen Unterricht. Von Fachkräften für Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Äußerungen von Schulleiter*innen zur privaten Nachhilfe bewerten. Die Kooperationsschulen des Studienkreises Märkisches Viertel möchten zwar ohne Rücksprache mit dem Schulrat dazu keine Aussage machen, lassen aber durchblicken: Mit der durch das BuT geförderten Nachhilfe haben sie bisher gute Erfahrungen gemacht. Sie sei eine gute Möglichkeit, zusätzlich und in anderem Umfeld den Stoff der Schule zu lernen.

Profiteure des Lehrermangels sind Nachhilfeinstitute wie der Studienkreis. Die Integration der Flüchtlinge ist ihr Geschäft.