Fäden durch die Welt gespannt

Städte in graphische Elemente zerlegen: Das Metropolis zeigt in der Reihe „Das neue Moskau“ Vertovs „Vorwärts, Sowjet“ und Kaufmans „Moskau“

Mikhail Kaufman zerlegt Moskau in graphische Elemente. Diagonale Bewegungen strukturieren in seinem gleichnamigen, 1926 gedrehten Film, der jetzt im Metropolis gezeigt wird, die Stadt: Schräg teilen in der Draufsicht Straßenbahngeleise das formatfüllende Pflaster eines Platzes. Die Tram kommt, dann kreuzt ein Bus. Eine Spinnmaschine schießt ihre Fäden durchs Bild. Eine andere Tram durchquert den riesigen Schatten der Kremlmauer. Moskwa-Schiffer hinterlassen eckige Wellen im Fluss. An den dünnen Strichen der Oberleitungen hangelt sich der Verkehr durchs Straßengewühl. Linien verbinden. Abstraktion ist in Kaufmans Großstadt-Sinfonie Moskau kein musikalischer Selbstzweck, sondern analytisches Mittel.

Die Spannung von Hell und Dunkel schlägt produktive Funken, wenn aus dem flüssigen Eisen des Gießers vor schwarzem Hintergrund gleißende Lichtfransen stieben. Der Schnitt wird schneller, wenn die Post ihre Sendungen in alle Richtungen auf den Weg schickt. Zu schnell, um die Abläufe buchhalterisch zu verstehen. Schnell genug, um ihren Sinn zu erfühlen. Eindringliche Close-ups einer redenden, lächelnden Frau sind zum Heulen real, zugleich stehen sie für Vitalität. Waren (Kaviar, Stoffe, Autos) wechseln von Hand zu Hand. Und die Kamera kann nur noch erstaunt draufhalten, wenn Telefonistinnen eine unsichtbare Ordnung im hektisch wuselnden Kabelsalat der Vermittlung halten, einen unverständlichen Bienentanz auf ihren Schalttafeln aufführen.

Sergej Eisensteins zwiespältiges, treffendes Lob: Moskau sei objektiver als die Werke von Kaufmans Bruder David, bekannt als Dziga Vertov. Zwiespältig, weil der beleidigte Eisenstein so einen analytischen Keil in die Kinoki-Gruppe Vertovs trieb, diese Avantgarde in der Avantgarde des frühen sowjetischen Films, der Kaufman natürlich auch angehörte. Denn Kinoki-Vordenker Vertov hatte Eisenstein wegen seiner fiktiven Sujets angegriffen.

Vertov selbst verbannte mit seiner Theorie und Praxis vom „Kino-Auge“ die Erzählung komplett aus dem Film. Stattdessen wollte er die neue Sowjet-Wirklichkeit dokumentarisch zeigen – und sie so, konstruktivistisch, zugleich miterschaffen, wie in dem trickreichen Der Mann mit der Kamera (1929), wo Mikhail als Kameramann die „Hauptrolle“ spielt, oder wie im Moskau-Aufbau-Film Vorwärts, Sowjet! (1926), den das Metropolis jetzt ebenfalls zeigt.

Treffend ist Eisensteins Lob, weil Kaufman tatsächlich weniger konstruktivistisch vorgeht als vielmehr kontemplativ, oder, um mit Vertov-Forscher Juri Tsivian zu sprechen: apollinisch statt dionysisch. Kaufman ist der Mann mit der Kamera: Er begeistert sich für den Anblick der Menschen und Maschinen, gern aus ungewohnten Perspektiven. Er ist aber nicht wie Vertov der wilde Mann mit den Ideen: Die wenigen vordergründigen Tricks in Moskau sind witzig, wirken aber deplatziert, wie die skurrile Sequenz mit ausgestopften Tieren und einem Pelzmantel, in den eine Frau eingeblendet wird. Gelungen ist aber ein kleiner selbstironischer Bildwitz: Ein weiterer Bus fährt vor die Linse – und entpuppt sich nach einem Schwenk als Spielzeug. Der Trick passt zu Kaufman, weil er nicht trickst, sondern nur mit dem Material der Wirklichkeit arbeitet.

Jakob Hesler

„Vorwärts, Sowjet“: Do, 15.9., 19 Uhr, Metropolis. Um 21.15 Uhr folgt „Moskau“. Einführungen: Thomas Tode