Wenn Papa vor der Zahnbürste warnt

Für Kinder psychisch kranker Eltern startet Bremen ein neues Sozialprojekt. Rechnerisch sind 30.000 Kinder im Land betroffen

Im Kidstime-Projekt finden von psychischer Krankheit betroffene Familien einen Rahmen für zwanglosen Austausch vor Foto: Michael Bahlo

Von Jean-Philipp Baeck

Warum hat der Papa Angst, dass die Zahnbürste vergiftet ist? Was ist eine „bipolare Störung“, die Mama haben soll? Und warum sieht es zu Hause manchmal so unordentlich aus? Kinder psychisch-kranker Eltern vor besonderen Herausforderungen. Sie übernehmen Verantwortung, die die Eltern schultern müssten und tragen selbst das Risiko, das Verhalten der Eltern zu übernehmen. In Bremen startet für diese Kinder nun ein neues Projekt namens „Kidstime“. Bis zu zwölf Familien sollen sich hier austauschen können, spielen, ihre Probleme besprechen.

„Die Kinder psychisch-kranker Eltern übernehmen zu früh Verantwortung“, erklärt Friedrich Haun, Arzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Bremen-Ost. In der Schule gelten sie dann als „vorlaut“ oder „frühreif“. Sie können mit ihren Mitschülern ihre Probleme nicht besprechen oder trauen sich nicht, ihre Freunde mit nach Hause zu bringen. „Es ist wichtig, dass es eine Korrektur von außen gibt“, sagt Haun. Es brauche jemanden, der den Kindern sagt, dass die Mutter oder der Vater schon in Ordnung seien, aber hier oder da gerade nicht Recht haben – etwa bei der Angst vor der vergifteten Zahnbürste.

Ab Dezember könnte das Projekt „Kidstime“ für eine paar Familien diesen Rahmen bieten – einmal im Monat, in den Räumen der St.Stephani-Gemeinde im Doventorsteinweg. Betreuen werden die Treffen ein Theaterpädagoge und eine Sozialarbeiterin, die auch systemische Familientherapeutin ist. Und doch soll „Kidstime“ keine Therapiestunde sein, sondern ein niedrigschwelliges Treffen, um Eltern und vor allem die Kinder zu unterstützen.

„Resilienz stärken“ heißt das im Fachjargon von Klaus Henner Spierling, Psychologe am Agaplesion Diakonieklinikum im niedersächsischen Rotenburg. Er hat dort 2015 mit einem „Kidstime“-Projekt angefangen und sich das Konzept in London abgeschaut, wo es seit Mitte der 1990er solche Gruppen gibt. Anders als in Rotenburg wird das Projekt in Bremen allerdings laut Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) voll finanziert – erstmals in Deutschland.

Auf rund 13.000 Euro schätzt Spierling die Kosten. Geld, das in Bremen laut Stahmann gut investiert ist. Sie hofft auf Nachahmer und will den Ausbau bei Bedarf finanzieren. „Kidstime“ soll präventiv wirken, um an anderer Stelle Kosten zu sparen. Denn ein Kind etwa aus einer Familie nehmen zu müssen ist sehr teuer. Doch kann es genau das sein, wovor Eltern mit psychischer Erkrankung Angst haben. Zumal, wenn sie Psychiatrie-Erfahrung haben und wissen, wie sich Entmündigung anfühlen kann.

In Deutschland leben rund3,5 Millionen Kinder und Jugendliche in einer Familie in der mindestens ein Elternteil von einer psychischen Erkrankung betroffen ist.

Für Bremen ergeben sich daraus rechnerisch rund 29.000 betoffene Kinder.

In dem Projekt „Kidstime“ werden künftig zunächst bis zu 12 Familien über ihre Erfahrungen und Probleme sprechen können.

Für Kinder psychisch kranker Eltern ist das Risiko, selbst an einer Depression zu erkranken, drei mal höher.

So oder so spielt auch beim Jugendamt das Wissen um den toten Kevin bei Fällen von Kindeswohl-Gefährung immer noch eine Rolle.

André Rabini, Referatsleiter im Bereich „Junge Menschen“ im Sozialzentrum Mitte, erklärt, dass es etwa im Fall einer Psychose durchaus angezeigt sein kann, Kinder aus der Familie zu nehmen. In den allermeisten Fällen aber biete das Jugendamt einfach nur Unterstützung.

Jugendamtsleiter Rolf Diener verweist etwa auf ein Patenschafts-Modell mit „Pflegekinder in Bremen“, bei dem Kinder psychisch kranker Eltern im Fall einer akuten Krise von einer Patenfamilie vorübergehend aufgenommen werden. Die Angst vor dem Amt schade vielmehr, sagt Diener. Unter anderem „Kidstime“ soll hier niedrigschwellige Hilfe ermöglichen.