Die begossene Stadt

DER TAG DANACH In New York sind viele Straßen am Morgen nach dem Hurrikan „Sandy“ so leer wie nie. Wer vorwärtskommen will, muss laufen, arbeiten muss kaum jemand. Ein Streifzug durch eine Stadt außer Betrieb

Die Jogger sind die Ersten, die beschließen, dass es wieder Zeit für Normalität ist

AUS NEW YORK CITY JOHANNES GERNERT

Am Morgen danach läuft Marc Nash über die Brücke nach Brooklyn, über die eigentlich keiner mehr laufen darf, weil sie schon wieder gesperrt ist, und macht Bilder. „Die kann ich in zehn Jahren zeigen“, sagt Nash, 28 Jahre alt, er trägt schwarze Shorts, Schlappen und eine Kamera mit einem mächtigen Objektiv um den Hals. Historisches Ereignis.

Der Wind bläst ihm ins Gesicht. Er war am Montagnachmittag auch schon auf der Brücke, als die Böen ihn fast weggeweht hätten, als trotzdem immer noch Leute joggten, jetzt ist er zurück, Dienstagvormittag, gegen zehn. „Sandy“ ist vorbeigezogen, hat Straßen geflutet, U-Bahn-Schächte, Tunnel, hat Autos zertrümmert, Menschen getötet. New York wacht langsam auf. Marc Nash macht Fotos.

Vorne am Eingang zur Williamsburg Bridge, die von Manhattan nach Brooklyn führt, stehen zwei Polizei-Vans die die Fahrbahn versperren. Die Brücke sei bis mittags um zwei gesperrt, sagen die Polizisten. Taxifahrer haben gerade Warn-SMS bekommen: Sie sollen wieder von der Straße. Es ist noch nicht ganz vorbei, der Wind bläst wieder stärker. Auf der anderen Seite der Brücke lassen Polizisten jetzt auch keine Fußgänger mehr nach oben. „Es ist zu ihrer eigenen Sicherheit“, sagen sie. Wie lange? Sie wissen es nicht genau. New York muss sich sammeln.

Es gab Unfälle, weil manche im Dunklen mit dem Auto gefahren sind

Um zehn vor neun fiel der Strom aus. Manhattan war dunkel, erzählt Nash. Er zeigt ein Bild auf seiner Kamera. Fast alles schwarz. Gelegentlich hörte er Polizeisirenen, Feuerwehr. Es gab wohl Autounfälle, weil manche noch gefahren sind auf den stockdunklen Straßen, ohne Ampeln. Manchmal waren Autohupen zu hören, die Alarmanlagen von Wagen, vielleicht weil Bäume darauf gefallen waren. Nash ging dann ins Bett. „Ich kann immer schlafen“, sagt er. Seine Freundin nahm Tabletten.

Es gibt zwei Stadtviertel, die besonders hart von der Sturmflut getroffen wurden. Lower Manhattan und Red Hook in Brooklyn. Da klatschten Wassermassen an Land. Der Battery Park etwa, in Lower Manhattan, wo sich an der Landzunge Hudson und East River treffen, sieht am Dienstagmorgen zertrümmert aus. Gelbe Absperrbänder hängen hinter Zäunen, Absperrböcke liegen auf der Straße.

Im Financial District, wo die Börse wegen des Sturms geschlossen wurde, sind nur vereinzelt Menschen auf der Straße. Fast alle Geschäfte und Banken sind noch verrammelt, manchmal liegen Sandsäcke vor der Tür. Touristen mit Regenschirmen laufen herum.

Und dann: ein Jogger. Die Jogger waren die Letzten, die sich in die Häuser zurückgezogen haben, als es schon heftig stürmte, und sie scheinen die Ersten, die beschließen, dass es wieder Zeit für eine Art von Normalität ist.

Bäume liegen auf den Straßen wie Mahnmale

Auf den Straßen fahren fast nur Polizeiwagen, Krankenwagen, Feuerwehren. Einen Großteil der Zerstörung kann man gar nicht sehen: Das Wasser in den U-Bahn-Schächten, in den Tunneln. Im Financial District und nicht nur da sind alle Ampeln ausgefallen. Manchmal liegen Bäume auf der leeren Straße wie Mahnmale, die an die Toten dieser Nacht erinnern, die meisten von ihnen erschlagen.

Lloyd, Cap, weite Jeans, Basketballschuhe, läuft. Er läuft seit vier Uhr morgens schon, sagt er. Stundenlang, weil er nach Hause will, in die Bronx. Er war in Brooklyn, er hatte Stress mit seiner Freundin, er ging. Er war da draußen im Sturm, zwischendurch. Und als der Sturm in den frühen Morgenstunden erst einmal vorbei schien, zog er los. Er läuft jetzt einfach zurück, es sind bestimmt noch 150 Blocks. „Ich bin noch nie so viel gelaufen.“ Auf dem Weg will er sich noch den Kran anschauen, den der Sturm an der Spitze eines Wolkenkratzers voller Luxus-Apartments umgeknickt hat, in Manhattan.

Die Straßen unten am Ufer des East River sind geflutet. „Wow“, ruft Marc Nash oben auf der Williamsburg-Brücke in den Wind. Er schaut nach unten, wo ein Rettungsfahrzeug durch die Uferstraße rauscht, die wie ein Flussausläufer aussieht. Er macht noch ein Foto. Arbeiten muss er heute eh nicht. 231.756 Menschen sind laut den New Yorker Elektrizitätswerken am Morgen noch ohne Strom, allein in Manhattan. Es fahren kaum Taxis, keine U-Bahnen, kein Bus. Es kann Tage dauern, bis die Schienen einsatzbereit sind.

New York nimmt sich wieder in Betrieb, langsam.