Am Rand der Welt

Irgendwas mit Mauern: Zwei Journalisten sollen über Europas Grenzen recherchieren – dann kommt die „Flüchtlingskrise“.
Aus ihrer Reportage haben Carlos Spottorno und Guillermo Abril jetzt einen famosen Comic gemacht

Nah dran an der Dramatik: Fotocomic „Der Riss“ Foto: Abb.: Avant Verlag

Von Jan-Paul Koopmann

Dieser Riss durch die Welt, dem die Journalisten Carlos Spottorno und Guillermo Abril jahrelang nachgespürt haben, ist kein Geheimnis. Denn wer hätte schon während der so genannten Flüchtlingskrise nichts mitbekommen von den Zäunen, den Wasserleichen und den Kanonenboten an den Grenzen der Festung Europa? Und trotzdem haben Recherchearbeiten wie „Der Riss“ Seltenheitswert. Nicht nur, weil es ein Fotocomic ist und diese Kunstform in Deutschland bislang nicht über die „Foto-Love-Story“ der Bravo hinaus kam. Nein, entscheidend ist die von Spottorno und Abril an den Tag gelegte Ausdauer – und ein Reporterglück, das die Kollegen vor Neid erblassen lässt. Am heutigen Samstag stellen sie das Buch und Ihre Reisen im Gängeviertel vor.

Europas Außengrenzen sollten sie für ein Magazin besuchen. Der Plan: Irgendwas mit Soldaten, Flüchtlingen und Mauern, drei, vier Stationen vielleicht – doch auf halbem Weg eskaliert die Situation: Der IS ruft sein Kalifat aus, die Zahl von Flüchtlingen verdoppelt sich schlagartig, Tausende ertrinken im Mittelmeer. Und die Grenzer rüsten auf.

Spottorno und Abril reisen weiter und weiter, fotografieren in Afrika und in der Arktis. Sie schreiben Titelgeschichten, füllen Magazinseiten und bekommen dafür den World Press Photo Award. Für „Der Riss“ (Avant Verlag 2017, 184 S., 32 Euro ) haben sie ihre Bilder nun als Comic aufbereitet. Ohne Dialog-Sprechblasen, aber in einer stringenten Erzählung, die ihre Reisen dokumentiert. Die Bilder sind bearbeitet und wirken unter dem einheitlichen Sepia-Filter wie aus einem Guss. Es ist schon beachtlich, welche Dynamik in diesem Wechsel von intimen Portraitfotos, ganzseitigen Kriegsmaschinerie-Monumenten und subtilen Detailbeobachtungen entsteht.

Immer wieder wechseln die Journalisten die Seiten: Von illegalen Flüchtlingslagern in Marokko, auf eine schwer bewaffnete italienische Fregatte der heute eingestellten Rettungsmission „Mare Nostrum“ bis ins verschneite Litauen, wo sich Soldaten auf eine mögliche russische Invasion vorbereiten.

So ganz können sie sich melodramatischen Schwulst nicht verkneifen: „Die Kleinen weinen heiser, als dringe ihr Schluchzen tief aus der Erde“, heißt es etwa in einem Textkasten – der völlig überflüssigerweise Gründlichkeit und Integrität der Recherche verrät. Als könnte das Bild des im Schlauchboot geborgenen Kleinkindes Zweifel an der Dramatik lassen. Wahrscheinlich haben sie sich mitreißen lassen, von der Situation, aber auch dem Projekt in Gänze. Und das ist ja auch tatsächlich gewaltig! Wo steht Europa heute politisch und moralisch? Das ist die Frage des Buches und: „Wie lange steht es überhaupt noch?“

Beantworten können Spottorno und Abril das vielleicht nicht, wichtig ist ihr Beitrag dennoch. Übrigens ist es auch allerfeinster Rechercheporno: Wie sie sich in den militärischen Komplex hinein schummeln – und ihre Bilder wieder raus. Eine Doppelseite schließt durchaus sportlich mit dem Hinweis, von den letzten sechs Fotos sei nur eines auch legal. Das ist schon lustig. Und manchmal ist das Verbot selbst das eigentlich Verrückte: Den stinklangweiligen Fluss Evros zum Beispiel darf man nicht fotografieren, wo er die Grenze zwischen Griechenland und Türkei darstellt.

Buchvorstellung: Sa, 11.11., 19.30 Uhr, Fabrique im Gängeviertel, Seminarraum