Das Universum der Nischen

Die Kultur der Netlabels etabliert sich als Parallelwelt zum kommerziellen Musikmarkt. Meist kostenlos kann man sich hier Stücke herunterladen, die einem eigenen Urheberrecht unterliegen. Oft sind es Liebhaberprojekte, manchen Netlabels liegt aber auch ein neues Geschäftsmodell zu Grunde: Die Musikkonserve wird hier zum Promotionwerkzeug

VON ARNO RAFFEINER

Es ist ein Ritus, der bei großen Zusammenkünften der Musikindustrie seit einigen Jahren praktiziert wird. Von immensen anstehenden Herausforderungen sprechen, ein klein wenig meckern und heulen und dann ganz automatisch immer denselben anklagenden Zeigefinger erheben: Der böse Download ist schuld. Dabei ist neben der notorischen Musikpiraterie im Internet längst ein Paralleluniversum entstanden, in dem von den Produkten der großen Plattenfirmen sowieso niemand etwas wissen will, da hier freie Musik kostenlos zur Verfügung gestellt und ganz legal ausgetauscht wird: die Welt der Netlabels.

Eine kontinuierlich wachsende Community gestaltet hier ihre Visionen eines alternativen Umgangs mit Kulturgütern und schafft damit Fakten, die vom Musikkonsum über den Vertrieb bis hin zum Urheberrecht altbewährte Mechanismen und Denkweisen über den Haufen werfen. Musikkultur ist eben nicht gleich Musikindustrie. Letztere muss erkennen, dass sie nicht nur den Entwicklungen hinterherhinkt und sich mit ihren schwerfälligen bis plumpen Reaktionen (Kopierschutz, Verfolgung der NutzerInnen von Tauschbörsen, Fehlgriffe bei eigenen Downloadportalen) ins Abseits manövrierte, sondern gleich ganz außen vor bleibt. Netlabels haben ihre eigenen Netzwerke, eigene Codes, ihre jeweils extrem spezialisierte Spartenmusik, aber als verbindendes Element eint sie der Glaube an die Offenheit des Internets und an freie Inhalte als Grundbedingung für kreativen Fortschritt.

Martin Donath vom Netlabel Stadtgruen (www.stadtgruenlabel.net) macht sich keine Illusionen: „Netlabels sind Nischenkultur, auch wenn sie durch das Web überall in der Welt verfügbar sind. Erzähl mal einem ‚normalen‘ Menschen oder Surfer von einem Netlabel – die meisten haben keinen blassen Schimmer, was das sein soll.“ Ganz grundlegend gesprochen geht es um Musik in digitaler Form, die über das Internet verbreitet wird. Im einfachsten Fall ist ein Netlabel schlicht eine Homepage mit Links zu Musikdateien und etwas Webspace, wo diese gelagert sind. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die umständliche Verteilungsmaschinerie vom Label zum Presswerk zum Vertrieb zum Plattenladen, die bei physischen Tonträgern unumgänglich ist, wird eingespart, die Verbreitung der Musik durch das Internet ist um ein Vielfaches effektiver. Sie gelangt vom Label direkt an die HörerInnen. Fazit: geringe Kosten, direkte Kommunikation und – zumindest potenziell – weltweite Verbreitung im Handumdrehen.

Rechtlich bewegt sich die Welt der Netlabels in einem speziellen Bereich. Das herkömmliche, als zu restriktiv empfundene und auf kommerzielle Verwertung ausgerichtete Urheberrecht wird vom Großteil der Community ebenso abgelehnt wie die Mitgliedschaft in der Gema. Der Großteil der Musik wird unter Creative-Commons-Lizenzen veröffentlicht, die Urheberrecht eben aus dem Geist frei verfügbarer Kulturgüter definieren, Stichwort: „Some rights reserved.“ Eine andere Lösung als die Schaffung des erwähnten Paralleluniversums ist gerade wegen der rechtlichen Gegebenheiten auch gar nicht möglich: Creative Commons sind mit der Gema nicht vereinbar. Ist ein Musiker Gema-Mitglied, so gilt für all seine Werke das herkömmliche Urheberrecht – und für ein Netlabel, das seine Stücke anbieten wollte, fallen für jeden Download Gebühren an. Da würde es schnell zum Luxus, Musik ganz umsonst zu verbreiten.

Aber die Grenzen zwischen freiem und kommerziellem Musikmarkt sind mittlerweile fließend und verschwimmen immer weiter. Auf der Skala vom strikt freien Netlabel bis hin zum Oldschool-Vinyl-Betrieb gibt es alle erdenklichen Mischformen. Netlabels, die sich über Jahre hinweg einen guten Namen und ein treues Publikum erarbeitet haben, denken durchaus daran, ihr Angebot nicht nur immer weiter zu professionalisieren, sondern auch zu kommerzialisieren. So z. B. Tokyo Dawn Records (www.tokyodawnrecords.com), das eine interessante Mittelposition auf dieser Skala einnimmt und neben dem Angebot freier Downloads auch CDs für den Ladenverkauf produziert. Oder das Label Thinner (www.thinner.cc), das Überlegungen anstellt, auch mal kostenpflichtige Downloads anzugehen. Betreiber Sebastian Redenz: „Wir denken, dass etablierte Netlabels ihren Artists die Möglichkeit bieten sollten, mit ihrer Musik Geld zu verdienen, um sowohl Reputation, Integrität als auch Qualität auf einem hohen Level zu halten.“

Bezahlte Downloads schön und gut, aber wie überleben all die Labels, die ihre Musik kostenlos zur Verfügung stellen? Wie kann das gehen, nur mit Nullen und Einsen schwarze Zahlen zu schreiben? Eine nahe liegende Antwort: 100.000 Downloads. Was zunächst aber nur bedeutet, dass das z. T. sehr hohe Traffic-Aufkommen irgendwie finanziert werden muss. Hier haben sich Strukturen etabliert, auf die viele Netlabels zurückgreifen. Services wie scene.org und archive.org, selbst wiederum z. T. von Universitäten und der Computerindustrie gesponsert, übernehmen Hosting und Traffic und sorgen gleichzeitig auch für ein bestimmtes qualitatives Grundniveau. Nicht jede Hobby-Musikseite wird so ohne weiteres aufgenommen. Der finanzielle Aufwand für die Labels bleibt also überschaubar.

Und für die MusikerInnen ist es möglich, mit ihrer Arbeit auch Geld zu verdienen – über Umwege. Die eigentlichen Veröffentlichungen funktionieren als Visitenkarte, um an Live-Auftritte oder kommerzielle Aufträge zu kommen, z. B. zur Vertonung von Filmen, zum Sounddesign für Computerspiele oder Werbung. Zugleich kann aber auch die Gegenfrage gestellt werden, ob das Generieren von Gewinnen denn überhaupt beabsichtigt ist. „Liebe zur Musik und Spaß an der Freude“, ist die Standardantwort nach den Motivationen der BetreiberInnen, die neben der Label-Arbeit meist einem geregelten Job nachgehen oder selbst als MusikerInnen tätig sind.

Wer im Bereich Netlabels wirklich Geld verdienen will, sieht sich einem harten Wettkampf ausgesetzt, in dem sich, etwas überspitzt formuliert, entfesselte neoliberale Marktmechanismen durchzusetzen scheinen. Wer nicht gehört wird, bekommt auch keine Aufträge. Hier zeigt sich, dass im Netz ein Gut noch kostbarer ist als Geld bzw. einfach an erster Stelle kommt: Aufmerksamkeit. „Wir verschenken unsere Musik nicht gerne“, meint Marc Wallowy von Tokyo Dawn, aber das Wichtigste sei, Aufmerksamkeit zu erregen – im derzeitigen Überangebot an Musik, das durch die digitalen Vertriebswege natürlich noch verschärft wird, eine rare Ressource. Geschenke seien dafür ein ideales Mittel.

Diese simple Promologik versteht man auch in den oberen Etagen großer Plattenfirmen. Die Musikindustrie wird sich die Erfahrungen der Netlabels v. a. als Marketingstrategien zu Eigen machen. Es ist wie so oft: Gelernt wird vom Underground. Im Zuge der Digitalisierung des Musikkonsums kommt inzwischen kaum eine etablierte Plattenfirma daran vorbei, ihre Veröffentlichungen auch in Dateiform anzubieten, ob über einen eigenen MP3-Shop oder große Downloadportale – kostenpflichtig, versteht sich. Die Millionen an verfügbaren Gigabyte in den Fetischgeräten der Generation iPod wollen schließlich gefüttert werden.

Mittlerweile ist auch vorstellbar, dass die DJ-Kultur ganz ohne Musik auf Vinyl auskommt. Die technischen Lösungen gibt es bereits, und sie finden mehr und mehr Anerkennung und Verbreitung. In vielerlei Hinsicht sind DJs schon eher Digital Jockeys als Disc Jockeys und könnten sich ohne Probleme ausschließlich beim kostenlosen Repertoire der Netlabels bedienen. Marc Wallowy ist sich sicher: „Die Plattenspieler im Club werden nun durch Laptops ersetzt, die Walkmen durch iPods und die Radio-DJs durch automatisierte MP3-Playlists. Lieber 10.000 Downloads als 1.000 Plattenverkäufe, sagen wir uns dann.“

Auch ein Techno-Produzent und DJ wie Richie Hawtin gibt zu Protokoll, dass ihn Schallplatten überhaupt nicht mehr interessieren. Stattdessen ruft er Producer auf, Musikdateien auf seinen Server hochzuladen. Eine prominente DJ-Figur wie Hawtin kann sich eben auch noch das Netlabel und das eigenhändige Navigieren sparen: Er wird direkt von den KünstlerInnen beliefert. Natürlich für lau.