Familienidyll mit Faltwand

ARCHITEKTUR Vorstoß in eine Männerdomäne: Die Ausstellung „Die zerstörte Stadt war meine Chance“ in der Berlinischen Galerie ehrt die Architektin Hilde Weström, die heute ihren 100. Geburtstag feiern kann

VON SARAH ZIMMERMANN

„Ta…klonnng!“ Unter literweise frischer Farbe, Lastenhebern und scheppernden Hammerschlägen wird die Berlinische Galerie alle Monate wieder zur Großbaustelle. Da müssen Kisten abtransportiert und Wände getüncht werden, bis der Vorhang zur nächsten Ausstellung fällt. Gut passt dieser Lärm zu einer kleinen Ausstellung im ersten Stock. „Wiederaufbau“ steht da in schwarzen Lettern an der Museumswand geschrieben. Und der Besucher denkt an Berlin 1945. An Schaufeln, Schutt und Schubkarren, an Kopftuch tragende Trümmerfrauen. An eine konkrete Frau denkt er erst mal nicht. Aber da steht auch ein Name an der Wand …

Die am 31. Oktober 1912 in Oberschlesien geborene Hilde Weström hatte kaum ihr Ingenieursdiplom in der Tasche, als sie sich nach Kriegsende in Berlin in die Arbeit stürzt. Mit Bleistift, Lineal und Zeichenpapier stößt sie in eine klare Männerdomäne vor und wird 1948 als eine der ersten Frauen in den „Bund Deutscher Architekten“ aufgenommen. Die Stunde null ist Weströms Chance – heißt aber auch: Pragmatismus statt Traumschlossbauten. Denn sosehr sie sich während ihrer Studienjahre in Dresden und Berlin von großen Ideen, von Tessenow, Mies van der Rohe, vom Bauhaus und der Anthroposophie hatte anstecken lassen, so sehr muss sie in der zerstörten Stadt neue Maßstäbe anlegen.

Es galt, mit wenig Geld wieder normale Alltage zu ermöglichen, Bunker umzubauen und in Behelfsbaracken Kinderhäuser einzurichten. Hilde Weström krempelte die Ärmel hoch. Und fand im sozialen Wohnungsbau bald ihr persönliches Steckenpferd.

Unter der Feder der Architektin entstehen zwischen 1955 und 1970 über 1.000 Low-Budget-Wohnungen. Die Auflagen der Behörden sind zermürbend – denn Weström will Wohlfühlarchitektur, auch auf wenig Raum. In der Videoinstallation der Berlinischen Galerie spricht sie von Spielfluren, Schalldichte und Bewegungsfreiheit: „Damit habe ich meine Brötchen verdient.“

In den 50ern tourt Weström durch die Wohnungsausschüsse von Frauenverbänden, spricht mit Mitgliedern des Hausfrauenverbandes und der Mütterliga, um besonders deren Bedürfnisse auszuloten. Nun hatte die Frau Ende der Fünfziger in den meisten Fällen weder Schaufel noch Zeichenutensil, sondern einen Kochlöffel zur Hand. Und so wenig Westström diesem Klischee selbst entsprach, blieb sie mit ihren Entwürfen doch Kind ihrer Zeit. Sie wählt den weichen Weg – und versucht Frauen innerhalb der gängigen Rollenideale den Rücken zu stärken.

Eine Hausfrau sollte, fand Weström, ihren Alltag nicht in gekachelten Nasszellen verbringen, sondern eigene Wohlfühlbereiche haben. Als Mitglied des Beirats für Wohnungsgestaltung entwirft sie im Berliner Senat das „Küchenblatt“ DIN 18002, dessen Mindestanforderungen an eine Sozialwohnungsküche bis heute gelten.

Für die „Stadt von morgen“ darf Hilde Weström 1957 im Rahmen der Interbau dann ganz offiziell einmal Traumschlösser bauen. Und entwirft zweierlei Wohnungstypen, deren Fotos und Grundrisse dem Besucher in der Berlinischen Galerie jetzt zugänglich sind. Angetan berichtete die Berliner Morgenpost 1957: „Die Mutter zaubert aus der Tiefe eines Wandschranks eine Nähmaschine und Flickkisten hervor und trennt sich durch eine schalldichte Wand von ihrer auf dem Flügel klimpernden Tochter. Das Oberhaupt der Familie entgeht dem Nähmaschinengerassel, indem es die Vaterecke, die alle Requisiten eines Herrenzimmers enthält, auch mit einer Trennwand umgibt. Während Papa sich in den neuesten Bestseller vertieft, können nebenan seine Herren Söhne, ohne ihn zu stören, in ihrer Hobbyecke sägen, nageln und dabei pfeifen.“

Welch wunderbares Familienidyll! Gut, dass Weström einen Entwurf für berufstätige Frauen danebensetzte, bei dem es ihr vor allem um Ökonomie und Ästhetik ging. Darum, Arbeitsplatz und Wohnen räumlich miteinander zu verbinden. Mit Schiebe- und Faltwänden konnte man je nach Bedarf kleinere und größere Räume entstehen lassen.

Ins eigene Haus ziehen

Das alles ist lange her. Aber der Hauptstadt ist die Pionierin bis heute treu geblieben. Die Berlinische Galerie stellt anlässlich ihres 100. Geburtstages einige ihrer Pläne und Bauten aus. Wer die echte Fülle ihrer Arbeiten sehen will, muss aber eigentlich nur einen Streifzug durch Berlin unternehmen. Altersheime und Ateliers beschauen, Studentenwohnungen, das Pfarr- und Gemeindehaus. In der Argentinischen Allee in Zehlendorf, der Ellwangerstraße in Steglitz, der Otto-Suhr-Allee in Charlottenburg, der Körtestraße in Kreuzberg und der Tile-Wardenberg-Straße in Moabit – überall ist sie präsent.

Am besten wird sie dabei der kennenlernen, der auch einen Blick nach innen wagt. Mit 99 Jahren hat die Jubilarin nämlich ihre Kisten gepackt und ist in eines ihrer Heime, das Haus Christophorus in Berlin-Tiergarten, einfach selbst gezogen.

■ Hilde Weström: „Die zerstörte Stadt war meine Chance“. Berlinische Galerie, bis 25. Februar 2013