Kaleidoskop der Gewalt

Die einen befinden über sie, die anderen fallen ihr zum Opfer. Manche genießen sie, andere gewöhnen sich an sie

Parabel im Landgericht Berlin

Deutschlands größtes Landgericht in Charlottenburg hat hinter massiven Mauern mit kleinen Fenstern und schmiedeeisernen Eingangstoren seinen Sitz. Darf ich da überhaupt rein? Ich darf. Noch vor dem Eintreten wird klar, wer die Herrin des Hauses ist: Zwischen den Eingangstüren sitzt auf einem Löwenthron, in Bronze gegossen, Justitia.

Die Augen verbunden, auf dem rechten Knie liegt das Gesetzbuch, die linke Hand ruht auf einem Rutenbündel. Drinnen herrscht erhabene Stille, als ungebetener Gast ernte ich erst einmal prüfende Blicke und fühle mich augenblicklich wie zu Gast bei einem Freund, dessen Eltern mich für einen schlechten Einfluss halten.

Zwei geschwungene Treppen führen in den ersten Stock. In die Flanke des linken Aufgangs sind verwerfliche Begriffe wie Hass, Zwist und Willkür eingraviert. Die rechte hingegen zieren die Worte Güte, Wahrheit und Liebe. „Links gehen die Leute hoch, die den Prozess noch vor sich haben“, erklärt der Pförtner geflissentlich. „Und rechts darf man dann runterlaufen. Hinterher. Wenn man seine Strafe bekommen hat oder freigesprochen wurde.“

Ob es hier denn immer friedlich zugeht, will ich wissen. „Naja, also manchmal will der ein oder andere Bürger nicht so richtig einsehen, wer hier das Sagen hat. Da wird dann schon auch mal einer in Handschellen gelegt.“ Das ist aber eine recht rabiate Methode, oder? Erstaunen seitens des Pförtners. „Aber so ist das. Einer muss das Sagen haben, damit´s am Ende recht läuft.“

Das untermauert auch das Relief auf den tragenden Säulen der Treppen. Es zeigt das Urteil des König Salomo, in dem der kluge Richtende herausfindet, wer die leibliche Mutter eines Kindes ist, indem er androht es zu zerteilen. Am Ende sind alle glücklich, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Aber ganz ohne Gewalt, oder zumindest ihrer Androhung, ging das nicht. Anne Höhn

Blumen am Breitscheidplatz

Der Gedenkort für die Opfer des Anschlags am Breitscheidplatz im Dezember letzten Jahres ist erst jetzt wieder an seinem Ursprungsort: dem gerade wieder aufgebauten Weihnachtsmarkt. Die Gedenktafeln und Blumen stehen gedrängt zwischen Ständen und Weihnachtsbäumen. Daneben hängen zweifelhafte „Aufklärungsblätter“ unbekannter Autor*innen zu verschiedenen Attentaten in Europa. Die Täter werden darin ganz allgemein als „Muslime“ bezeichnet. Alarmismus vereinnahmt so ein Stück des Andenkens für sich.

Der Ort geht im Alltagstrubel um den Bahnhof Zoo unter. Nach dem Anschlag auf den Club Bataclan entfernte die Pariser Stadtverwaltung die Blumen nach einigen Wochen, der Club öffnete wieder. So stellt sich auch in Berlin die Frage: Was kommt nach den Blumen?

Die Antwort zeichnet sich bereits ab: Bauarbeiter lassen gerade eine goldfarbene Legierung in einen Riss im Boden des Breitscheidplatzes ein. Er steht symbolisch für den Bruch im Leben der Opfer und Angehörigen, und für die Leere, die sich danach ausbreitete. Leonardo Pape

Drüber reden: BDSM

Wie viel Gewalt steckt in den Praktiken von Bondage, Dominance und Sado-Masochismus? Kurz: BDSM. Beim Munch, dem Stammtisch des BDSM e.V., gehen die Meinungen darüber auseinander. In einer Friedrichshainer Bar treffen sich Interessierte und Szeneinsider.

„Viele von uns zucken zusammen, wenn wir ‚Gewalt‘ hören – wir sind stolz darauf, unser Tun bewusst davon abgrenzen zu können“, sagt Achim. Er ist 44, Schallplattenhändler, und in der Szene aktiv. Dagegen spricht ein junger Gymnasiallehrer von „konsensueller Gewalt“.

Am Ende geht es in der Kontroverse mehr um die Bezeichnung als um die Sache. Denn die Szene teilt das Selbstverständnis „safe, sane and consensual“, also, wie Achim beschreibt, „ein beidseitig artikuliertes, reflektiertes und euphorisches Ja zu dem, was geschehen soll.“

Um persönliche Grenzen bei BDSM-Praktiken zu ziehen und einzuhalten, müssen die Beteiligten offen miteinander reden. Steffen, einer der Organisatoren der Treffen, bringt das auf den Punkt: „Wir sind nur normale Menschen mit besonderen sexuellen Fähigkeiten“. Leonardo Pape

Kotti, Mandarinen, Marihuana

„Kotti, das muss doch nun wirklich nicht sein.“ Besuch in Berlin und die Angst ist mit im Gepäck. Als Stadtverliebter grämt mich dieser Satz. So beschließe ich, mich selbst in den „Brennpunkt an der U8“ zu werfen, um die Wahrheit zu erfahren.

„Ich hab dich gesehen!“, tönt ein Schrei aus der ersten Ecke, die sich direkt vor dem Stahlbetonkoloss des „Neuen Zentrum Kreuzberg“ auftut. Der Tourist bekommt plötzlich sein Klischee: Ein junger Mann wird von Polizeibeamten festgehalten, „Haschischhandel“, wie mir aus dem Einsatzwagenfenster freimütig berichtet wird.

Das gesamte Ereignis spielt sich direkt neben einem Obst- und Gemüsestand ab, trotz der Nachtstunden tummelt sich hier eine bunt gemischte Menschenmenge. Ganz im Berliner Späti-Stil hat dieser Stand 24/7 geöffnet. Der dauerlächelnde Verkäufer Armin weiß um den Schein. „Ich sehe alles: Messer, Knarren. Ein Drittel meiner Kunden wird ausgeraubt“, sagt er mir.

Der junge Dealer wird abgeführt, Schichtende. Die PolizistInnen fahren nach Hause zu ihren Familien – und wenig später ist der Film schon zu Ende.

Es ist mittlerweile kurz nach Mitternacht, Armin verkauft eine Tüte Paprikas und und ich lasse mich schnell und fast schon ernüchtert von der Ruhe in Richtung Kneipensound dirigieren. Dort muss es doch wenigstens einmal richtig rappeln! Die lauteste Bar sollte es sein, hart und wild, wie der Punk der 80er es mich lehrte.

Fehlanzeige – gemütlich sitzt eine Riege aus Stammkunden am Tresen, unterhält sich aufgrund der Lautstärke nicht wirklich, nickt aber mit dem Kopf. Man verstummt, als der Barkeeper die Musik herunterdreht, um mir die wahre Gewaltsituation zu beschreiben: Nichts besonderes.

„Wer Stress macht, trinkt nichts“, sagt er. Die Bars seien ein abgesteckter Bereich. „Man muss eben wachsam sein und direkt vom Tresen aus eingreifen – es ist und bleibt der Kotti, wem das nicht gefällt, der muss in den Grunewald ziehen“. Prost, hier sind sich alle einig.

Lachen hin oder her, der „Kotti“ bleibt ein Ort präsenter Gewalt, um die sich der Kiez auch selbst kümmert. Durch Konfrontation und auch Gewohnheit. Die Kreuzberger wissen um die Situation, engagieren sich und versuchen, ihren Kiez in Ordnung zu halten, man „muss ja weitermachen“. So wie der nachtaktive Obstverkäufer, der mir nach all der Action eine Tüte Mandarinen reicht. Aron Boks