afrobeat
: Den Haags falsche Logik

Wie die internationale Justiz aus Tätern Opfer macht

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DominicJohnson

ist Afrika­redakteur der taz und leitet das taz-­Auslands­ressort. Zuletzt erschien von ihm, Simone Schlindwein und Bianca Schmolze: „Tatort Kongo – P­rozess in Deutschland. Die Verbrechen der ruandischen Miliz FDLR und der Versuch einer juristischen Aufarbeitung“ (Ch. Links Verlag).

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat am 15. Dezember eine historische Entscheidung getroffen. Er sprach den Opfern des ersten von ihm verurteilten Kriegsverbrechers endlich Entschädigung zu: 10 Millionen US-Dollar, die mit Abstand höchste vom Weltgericht je den Opfern zugesprochene Summe. Es ist auf den ersten Blick ein wegweisender Beschluss: die internationale Justiz nimmt endlich ihre Verpflichtung ernst, nicht nur Kriegsverbrecher zu verurteilen, sondern auch Wiedergutmachung auf den Weg zu bringen.

Niemand könne etwas dagegen haben, könnte man meinen. Oder doch? Auf den zweiten Blick offenbart dieser Beschluss eine Reihe von Merkwürdigkeiten, die grundsätzliche Fragen über die Praxis des internationalen Völkerstrafrechts aufwerfen.

In dem Beschluss dreht es sich um den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga, ehemaliger politischer Führer der Miliz UPC (Union Patriotischer Kongolesen), die 2002 und 2003 in der nordostkongolesischen Provinz Ituri Krieg führte. Lubanga wurde 2012 im allerersten Urteil des Weltgerichts überhaupt der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten schuldig gesprochen und zu vierzehn Jahren Haft verurteilt.

Es waren Kinder, die in jungen Jahren von ihren Familien zur Miliz geschickt oder zwangsrekrutiert wurden; die in Miltärlagern gedrillt und gefügig gemacht wurden. Von Folter, Misshandlung, Vergewaltigung, Verlust der Schulbildung und Traumatisierung war im Lubanga-Verfahren die Rede. Die einstigen minderjährigen Kämpfer, hieß es, bräuchten Hilfe zur Resozialisierung. Sie sind die Opfer, die jetzt entschädigt werden sollen.

Aber den Kindersoldaten wurde nicht nur etwas angetan. Sie waren während des Krieges selbst Täter. Erst das Gericht machte aus ihnen reine Opfer. Ihre eigenen Verbrechen und ihre eigenen Opfer kamen in Den Haag überhaupt nicht mehr vor.

Worum es in Ituris Krieg ging, ist derzeit Thema im noch laufenden Den Haager Prozess gegen den einstigen UPC-Militärführer Bosco Ntaganda. Die UPC rekrutierte sich aus dem Volk der Hema und sah sich als deren Schutzmacht gegen einen drohenden Völkermord. Wie alle Milizen von Ituri, die sich bis aufs Blut bekämpften, beging aber auch die UPC großflächige Verbrechen an Angehörigen anderer Ethnien.

Es gibt in Ituri noch heute viele Kriegsvertriebene, unaufgearbeitete Verbrechen und abgrundtiefes Misstrauen. Der Krieg ist noch längst nicht Vergangenheit. Und mitten in dieser Situation spricht der Internationale Strafgerichtshof ehemaligen Kämpfern einer Kriegspartei 10 Millionen US-Dollar Entschädigung zu. Zum Vergleich: Das gesamte Jahresbudget der Provinzregierung von Ituri beträgt 60 Millionen US-Dollar.

425 „direkte und indirekte“ Opfer hat der Gerichtshof in seinem Beschluss bestätigt und den ihnen zugefügten Schaden pauschal pro Person mit 8.000 US-Dollar beziffert. Da es mutmaßlich noch viel mehr Geschädigte im Sinne dieses Urteils gibt – die Zahl der Kinder in den Reihen der UPC wird auf mehrere tausend geschätzt –, haben die Richter die resultierende Gesamtsumme von 3,4 Millionen US-Dollar einfach mal auf 10 Millionen erhöht.

Was für einen Präzedenzfall das Gericht mit dieser Logik schafft, hat es sich wohl nicht überlegt. Wenn jeder Kriegsgeschädigte im Kongo Anspruch auf 8.000 US-Dollar Wiedergutmachung hat, sprengt dieser Anspruch in einem Land mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 450 US-Dollar die komplette Volkswirtschaft, sobald nennenswerte Anzahlen von Menschen ihn erheben – und im Kongo sind weite Teile der Bevölkerung kriegsgeschädigt. Wenn aber ehemalige Kindersoldaten die Einzigen sind, die diesen Anspruch erheben dürfen, werden sie zu einer privilegierten Kaste. Das ist Sprengstoff für den sozialen Frieden – und der größtmögliche Anreiz für eine arme Familie, ihre Kinder in eine Miliz zu schicken, in der Hoffnung, dass sie dereinst als Opfer anerkannt und entschädigt werden.

Und was werden Opfer von UPC-Verbrechen in Ituri wohl denken, wenn sie erfahren, dass jetzt endlich Geld fließt – aber nicht an sie, sondern an einige der einstigen Täter, weil die damals Kinder waren? Schon heute ist in Ituri häufig zu hören: Die zivilen Opfer des Krieges warten auf Wiedergutmachung, während inhaftierte Täter es sich in europäischen Gefängniszellen gut gehen lassen.

Natürlich bekommen die ehemaligen Kindersoldaten das Geld nicht individuell ausgezahlt. Festgelegt ist kollektive Entschädigung. Diese ist Sache des Opferfonds des Internationalen Strafgerichtshofs, in den seit seiner Gründung im Jahr 2004 rund 27 Millionen Euro geflossen sind. Gefördert wird die Wiedereingliederung von Gewalt­opfern im Ostkongo und in Norduganda. Der Fonds hat ein Konzept für die Lubanga-Entschädigungen vorgelegt und 1 Million US-Dollar zugesagt: Gemeinschaftsprojekte, um „die Opfer mit ihren Familien und ihren Gemeinschaften zu versöhnen“ sowie die „Stigmatisierung“ ehemaliger Kindersoldaten zu beenden. Aber wer kommt in den Genuss dieser Resozialisierung und wer nicht? Müssen ehemalige Kindersoldaten, die in einer anderen Miliz dienten als der UPC, draußen bleiben? Wer setzt das alles vor Ort um?

Wenn der Entschädigungsbeschluss des Strafgerichtshofs in vollem Umfang umgesetzt wird, bedeutet dies, dass für wenige tausend Begünstigte internationale Hilfsprojekte in einem Umfang ins Rollen kommen, der jedes Verhältnis zu den lokalen Gegebenheiten sprengt. Aber wahrscheinlich werden angesichts der chaotischen Verhältnisse im Kongo und der Zurückhaltung der Geber des Opferfonds – 2016 flossen nur noch 1,6 Millionen Euro in den Fonds, so wenig wie seit sechs Jahren nicht – noch viele Jahre vergehen, bis der Lubanga-Beschluss umgesetzt wird. Lubangas ehemalige Kindersoldaten sind ohnehin längst erwachsen. Und Lubanga selbst, der seit 2006 hinter Gittern sitzt, kommt bald frei.