glosse
: Was ist schlimmer: die Zerstörung heiler Tengelmann-Familien oder Homos nicht hassen dürfen?

Adrian Schulz

ist Kolumnist der taz („Jung und dumm“) und schreibt für taz, „Titanic“, „Zeit“Online“, „Neues Deutschland“ und „FAZ“. Er hat eigentlich nichts gegen ältere Männer.

Mit dem Verstehen ist es zuweilen recht heikel. Das zu umreißen, was wir nicht wissen, fällt schwer. Anders das, was vorsätzlich vergessen wurde. Deutsche antisemitisch? Nie im Leben! Müssen die Ausländer sein. Den Besuch beim Holocaust-Mahnmal inklusive Gedenken an die famos aufgearbeitete VERGANGENHEIT und die Untaten A. Hitlers sieht doch jeder gut funktionierende Durchschnittsfaschist als elementar an (für so etwas wie das Deutschsein, versteht sich). Sintemal: Deutsche homophob? Nie im Leben! Sogar Julia Klöckner sieht mittlerweile den „Kampf gegen Homophobie“ als elementar an (für so etwas wie das Deutschsein, versteht sich).

Umso mehr verwundert ein vom Exchef der Volkspartei SPD Sigmar Gabriel gezeichneter Wirrtext im Spiegel. Neben „Sehnsucht nach Heimat“ artikuliert er Verdruss über die Ehe für alle: Sie sei „fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht“ worden – „und nicht genauso emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten“. Denn was ist schlimmer: die Zerstörung heiler Tengelmann-Familien oder Homos nicht hassen dürfen?

Wenn doch die (auch in dieser Zeitung) so gescholtene „Identitätspolitik“ und „politische Korrektheit“ am Wahlerfolg der AfD schuld sein sollen, und zwar ausgerechnet ihr schwuler und lesbischer Teil – wie können dann 80 Prozent der Deutschen zu Beginn des Jahres die Ehe für alle gut gefunden haben? Zeigt Gabriels Einwurf nicht, dass die Auswahl der Minderheit, gegen die für eine nebulöse Volksnähe Stimmung gemacht werden soll, völlig beliebig ist? Welche kommt als nächstes: berufstätige Frauen? Langhaarige? Ungläubige? Wenn Gabriel soziale Ungleichheit nur zusammen mit Zumutungen wie Nicht­heteros oder Flüchtlingen anzuprangern können glaubt, stempelt er ebenjene volksunteren Schichten pauschal zu triebgesteuerten Primitivlingen.

Wer wählt dann noch SPD? Doch nicht etwa: Tengelmann-Frauen?