Kritik: Jan-Paul Koopmann über die „Kantine 22“
: Kitsch größer als Kunst

Dass er alle total nervt, sei ihm ja klar, sagt Matthieu Svetchine irgendwann – und zieht einem damit den Boden unter den Füßen weg. Da hatte er gerade Mary Poppins komplett nacherzählt, die Disney-Verfilmung von 1964, einige der Lieder vorgesungen und in anwachsender Manie noch Details zu Schnittfehlern, Perspektiven oder seinen Soundtrackentdeckungen in Disneys Legacy Collection abgearbeitet. Und es war wirklich richtig lustig. Bis kurz vor Schluss.

Als eine Art Talentshow hatte das Theater sein neues Format „Kantine 22“ angekündigt. Zu später Stunde werden Theatermitarbeiter in der Kantine „ungeahnten Talente“ präsentieren. Matthieu Svetchine überrascht nun nicht damit, als Schauspieler einen Film auswendig zu können, sondern weil er mit nichts außer Regenschirm und Whiskyflasche in der Hand gleich zwei Welten zum Leben erweckt: Die des Films nämlich, von dem man tatsächlich eine Menge mitbekommt, obwohl er als Zeichentrick-Realfilm-Hybrid mit Musicalelementen längst nicht nur aus Dialogen besteht. Aber auch seine eigene: „So schön, sie ist einfach perfekt“, schwärmt Matthieu Svetchine säuselnd für Mary Poppins, die als magisches Kindermädchen zur zerrütteten Familie Banks kommt und da alles zum Guten wendet.

Svetchine habe als Kind kaum Freunde gehabt, sagt er beiläufig, weil er wohl zu viel in Mary-Poppins-Zitaten gesprochen habe. Die Begründung ist lustig, hängen bleibt aber doch der erste Teil des Satzes. Dann wird es wirklich finster: mit einer kaputten Familie, Tränen, Alkohol – und einem Kind vorm Fernseher. Er habe sich auch eine Mary Poppins gewünscht, die seine Familie rettet, spricht Svetchine in ein plötzlich totenstilles Publikum hinein.

Sie kam nicht. Aber geholfen habe dieser Film, die Fantasiewelt, die er als Kind schon auswendig drauf hatte. Das war mutig und schlichtweg überwältigend: sein Publikum mit einem quälend langen Programm und Lachern auf eigene Kosten bei Laune zu halten, um dann im allerletzten Moment den überdrehten Nerd fallen zu lassen und alles auf den Kopf zu stellen.

So dicht ist das vielleicht wirklich nur an so einem Zwischenort wie der etwas schäbigen Kantine denkbar, zwar ausdrücklich hinter den Kulissen, aber eben doch im Theater. Ausverkauft zwar, aber doch in fast familiärer Umgebung. Wenn es der „Kantine 22“ gelingt, diesen Glücksfall Format werden zu lassen – dann hat der Goetheplatz einen neuen Schatz im Programm.

Nächste Ausgabe: 22. Februar, 22 Uhr in der Theaterkantine