Sandra

Eine Jahresendgeschichte von Katrin Seddig
(Text) und Imke Staats (Illustrationen) 43–45

Ich starre aus dem Fenster. Es schneit nicht. Es schneit nie. Ich frage mich, ob es noch Sinn hat, auf Schnee zu warten, oder ob wir alle den Schnee wie ein Wunder betrachten sollten. Niemand wartet auf ein Wunder. Das stimmt nicht, denke ich, kranke Menschen, liebeskranke Menschen, wie ein kleines Wölkchen schwebt die Hoffnung um sie herum, während der Alltag, die Gewissheit, dass es gar keine Wunder gibt in diesem Leben, ihre Körper schwer am Boden hält.

Es gibt keine Wunder. Es gibt keinen Schnee. Wir sollten anfangen, diese Feste auf eine andere Art zu feiern. Wir sollten andere Filme sehen, Filme ohne Schnee.

Ich sitze auf einem Stuhl und sehe aus dem Fenster, hinunter auf den Platz vor meinem Haus, auf den kein Schnee fällt, nur dichte Schleier von feinem Regen, und ich bin froh, dass ich hier oben sitze und nicht dort unten herumlaufe, wo ich durchnässt werden würde, das kann ich nicht leiden. Ich kann nicht verstehen, warum die Franzosen in Filmen so darin schwelgen. Wenn sie herumirren und sich unter Schirmen treffen. Oder wenn sie sich ohne Schirm treffen, mit weit aufgerissenen Augen, die Frauen in französischen Filmen haben immer Augen wie Koboldmakis, und der Regen rinnt ihnen über ihre glatte Haut. Das ist Liebe. Nach dem Regen reden sie. Sie reden immer sehr viel in französischen Filmen, und das gefällt mir. Man weiß, woran man ist.

Es klingelt und das ist Cornelius.

„Liebling, du siehst sehr fein aus.“

„Ich weiß“, sage ich, ich sehe wirklich fein aus. Ich habe ein blassgelbes Kleid an und gemusterte Strümpfe.

„Können wir?“, sagt Cornelius.

Wir wollen zu den Flemmings. Aber ich möchte nicht zu den Flemmings gehen.

Ich stehe von meinem Stuhl auf. Es war schön, auf diesem Stuhl zu sitzen und auf den Platz zu sehen. Dieser Platz ist ein nichtssagender Platz. Er hat keine Bänke, keine Tauben, er hat einen mittelmäßigen Straßenverkehr und keinerlei Geschäfte. Es tut sich nicht viel, dort unten. Aber ich warte schon seit Längerem, ich denke, irgendwann wird etwas passieren.

„Was hast du gekauft?“

„Einen Aal. Du kannst ihn dir ansehen.“

Ich sehe mir den Aal an, er ist ekelhaft.

„Weißt du“, sage ich, „ich möchte diesen Aal wirklich nicht in meiner Wohnung haben.“

„Ich weiß“, sagt Cornelius und küsst mich.

„Wie kommst du darauf, einen Aal zu kaufen?“

„Den bringen wir mit.“

„Zu den Flemmings bringen wir diesen Aal mit? Woher weißt du, dass sie Aal mögen?“

„Ich weiß es ja nicht. Aber ich riskiere es. Er ist geräuchert. Man kann ihn einfach so essen. Er ist für’s Buffet. Ich habe Baguette dazu gekauft.“

„Ich werde nicht mitkommen“, sage ich.

„Warum denn nicht? Du hast dich doch schon hübsch gemacht.“

„Ich mag die Flemmings nicht.“

„Du magst sie nicht? Es sind deine Freunde. Und die Odenthals und Timo? Das sind doch alles deine Freunde. Magst du die auch nicht?“

Ich schweige.

Dann gehen wir zu den Flemmings und ich mag sie. Ich mag vor allem Sabine und ich mag auch Dennis. Sabine ist klein und dick und laut. Sie hat ein schlimmes Mundwerk. Sie kann richtig gemein werden. Manchmal empfinde ich so etwas wie Liebe für sie.

Die Odenthals mag ich auch. Die Odenthals sind Jan und Markus, sie sind seit letztem Jahr verheiratet und sie waren immer Jan und Markus, aber seit sie verheiratet sind, sagen wir die Odenthals. Es ist ein Witz, aber ich weiß gar nicht, warum es ein Witz ist, zu den Flemmings sagen wir auch, die Flemmings, und es ist kein Witz. Und Timo? Er gehört nun einmal dazu. Er passt nicht zu uns, zu unserer Gemeinschaft. Er ist eine ganz andere Sorte Mensch, und ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, dass er zu uns gehört. Ich denke, es müsste ihm auffallen, dass er nicht zu uns passt.

Wir sitzen im Wohnzimmer der Flemmings und trinken Sekt. Die Flemmings haben sehr viele Stühle und Sessel und Sofas und Kissen und an den Wänden hängt alles voller Bilder und manche Bilder sind einfach nicht schön. Es hängt alles durcheinander und auf jedem freien Platz steht etwas, eine Statue aus Gips, ein Stapel Bücher, eine getrocknete Distel, eine staubige Kerze, ein hölzerner Hund und überall sind kleine Gefäße, in denen was drin ist, Perlen und Erbsen und Knöpfe und verschrumpeltes, altes Obst. Auf dem Boden liegen Teppiche übereinander und zwischen all diesen Dingen rennt Sabine herum, mit Tellern und Gläsern und schreit. Es ist der schönste und gemütlichste Ort der Welt. Es ist die Wohnung, in der ich gerne sterben würde, zwischen Decken und altem Obst. Ich schaffe es nicht, bei mir zu Hause solch ein Durcheinander anzuhäufen, um damit meine Wohnung auszukleiden. Ich kaufe nur wenig und Besonderes, ich bin zu wählerisch, um wirklich jemals zufrieden zu sein. Meine Wohnungen haben immer etwas Vorläufiges, als würde ich mich in einer andauernden Phase des Übergangs befinden, und Cornelius respektiert mich zu sehr, um mir entgegenzuwirken. Ich betrachte ihn. Er ist schön. Er ist viel schöner als ich. Er ist zu schön, um Frauen anzuziehen. Manchmal zieht er Männer an. Ich war gleich bereit, ihn zu nehmen. Ich bin selten so zufrieden mit irgendwelchen Dingen, deshalb habe ich nicht lange gefackelt.

Wir trinken Sekt, unsere Stimmung lockert sich. Und dann fällt mir auf, dass in der Ecke, auf dem Sessel am Fenster, eine Frau sitzt. Sie trägt einen blassgelben Overall, und das gefällt mir nicht, weil er fast das gleiche Blassgelb hat wie mein Kleid, und wir also aussehen wie aufeinander abgestimmt. Obwohl mir gleich klar ist, dass dieser Gedanke einigermaßen absurd und auch irrelevant ist. Aber meine Gedanken sind oft absurd und auch irrelevant für die anderen, für mich selbst aber nicht. Mir scheint das natürlich, denn die anderen nehmen meine Gedanken so gut wie gar nicht wahr. Das blasse Gelb wählte ich aus, weil es mir festlich schien, es ist das blasse Gelb einer eigentlich weißen Kerze, die durch den Schein ihrer Flamme gelblich leuchtet.

„Wer ist denn diese Frau?“, frage ich sehr leise und wie nebenher Sabine in ihr Ohr.

„Sandra“, sagt Sabine.

Ich nicke. Sandra sieht uns von ihrem Platz in diesem alten Sessel her direkt an. Sie scheint es zu wissen, was wir reden, und das ist mir unangenehm. Ich muss aber trotzdem weiterfragen. Ich frage wieder sehr leise und wie nebenher in Sabines Ohr, „Wer ist Sandra?“

Sabine zuckt mit den Schultern.

„Du weißt es nicht?“

„Zwischen Weihnachten und Silvester ist sie immer hier“, sagt Dennis. Er hat gehört, was ich geflüstert habe.

Wir alle sehen nun zu Sandra rüber. Sie ist nicht spektakulär, auch wenn sie einen blassgelben Over­all trägt, der, wenn ich ihn genau betrachte, ein sehr schönes, eingewebtes Blumenmuster hat, wie Damast, das sich nur in einem bestimmten Blickwinkel offenbart. Ich könnte gar nicht genau beschreiben, wie Sandra aussieht, sie hat ein unscheinbares Gesicht und eine ganz gewöhnliche Figur. Sie fällt nicht auf, deshalb habe ich sie wohl nicht bemerkt, und sie sitzt in diesem gemusterten Sessel, als würde sie dort hingehören. Es macht mir erst mal keine Sorgen, dass sie dort sitzt, es scheint fast schon immer so gewesen zu sein.

„Ist sie mit euch verwandt?“, frage ich weiter.

Sabine und Dennis schütteln gemeinsam den Kopf.

„Aber was tut sie dann hier?“, frage ich. Ich merke, wie ich ein bisschen verzweifele. Ich verzweifele rasch. Ich kann es nicht ertragen, wenn die Sachen unklar bleiben. Ich weiß ja, dass das Leben ein einziges, großes Durcheinander ist, eine Katastrophe geradezu, und dass es keine Gerechtigkeit gibt, vor allem keine Gerechtigkeit. Aber ich wünsche es mir so sehr und ich hoffe, dass wenigstens an den Festtagen die Leute so tun, als ob es die Schwierigkeiten des Lebens nicht gäbe.

„Sie sitzt eben dort. Sie stört niemanden“, sagt Dennis.

Die anderen scheint die Sache mit Sandra nicht zu beunruhigen, sie scheinen sich eher von meinen Fragen gestört zu fühlen, Cornelius sieht mich so an, wie er mich immer ansieht, wenn ich mich nicht gut benehme. Ich weiß, dass ich mich manchmal nicht gut benehme, aber selbst, wenn ich es weiß, muss ich mich weiter nicht gut benehmen, meistens jedenfalls.

„Aber wie kommt sie denn überhaupt hier rein?“, frage ich.

Sabine sieht mich an, als wollte sie mich zur Vernunft bringen. Dann sagt sie: „Sie kommt gar nicht herein. Sie ist einfach da, aber nach Silvester, schon am Neujahrsmorgen, da ist sie wieder weg.“

Ich atme ein bisschen heftiger. Ich ahne, dass mir diese Sache nicht mehr erklärt werden wird. Ich nehme einen Schluck Sekt.

„Ist sie denn“, ich flüstere, „ein Geist?“

Sabine legt ihre Hand auf meinen Arm.

„Ein Geist? Ich glaube nicht. Man kann sie anfassen. Geh doch hin und fass’sie einmal an. Sie ist ganz wie wir. Sie trinkt auch Sekt.“

Ich sehe rüber zu Sandra, und sie hebt ihr Glas. Ich fühle mich allein. Cornelius diskutiert mit Jan über Glyphosat und die ökologische Landwirtschaft. Ich sehe zu Timo. Timo sitzt, zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in einem Sessel, auf seinem Schoß liegt ein Kissen. Er kuschelt sich immer in diese Wohnung, er kuschelt sich auch in andere Wohnungen, und in Menschen kuschelt er sich auch rein. Er ist ein Einschmieger, ein Sichgemütlichmacher. Er genießt es, woanders zu sein. Beim ihm zu Hause stehen zwar haufenweise Sachen herum, aber es scheint alles, jedes Teil in dieser Wohnung falsch zu sein. Er hat keinen Geschmack. Er kann keine Wärme erschaffen, keine Schönheit. Aber er kann die Wärme anderer Wohnungen ganz in sich aufsaugen, und tatsächlich tut es gut, ihn zu beobachten. Es freut ihn, dass es Essen gibt, es freut ihn, dass es geheizt ist, dass der Wein schmeckt, der Sessel bequem ist. Er ist wie eine Katze, die aus ihrer Tonne kriecht und es sich schnurrend auf dem fremden Sofa bequem macht.

„Schätzchen“, sagt Timo, vielleicht weil ich ihn so ansehe, „du siehst heute ganz bezaubernd aus.“

Ich kann es nicht leiden, wie er redet. Ich sage, „Ich bin kein Schätzchen, jedenfalls nicht für dich.“

Timo lächelt. Er weiß, dass sein Satz angekommen ist. Er steht auf, um in die Küche zu gehen. Ich folge ihm, er öffnet den Kühlschrank, nimmt sich ein Bier heraus, und prallt fast gegen mich, als er sich umdreht. Ich sage, „Timo, was ist mit dieser Sandra, die hinter dir sitzt? Was ist das denn, verflucht noch mal, für eine Frau?“

Timo gibt mir einen Kuss auf die Stirn, so ist das nämlich mit uns, ab und zu, ich weiß auch nicht, warum.

„Was soll mit ihr sein?“

„Na, was sitzt sie denn da? Sie kennt doch niemanden. Was hat sie hier verloren?“

„Was regst du dich auf, mein Liebes?“ Timo legt seine Arme um mich und ich lege meinen Kopf an seine Brust.

„Ich frag’sie“, sagt er. „Ich red’einfach mal ’nen bisschen mit der.“

Als ich von der Toilette komme, sehe ich, wie Timo seinen Sessel herumgeschoben hat zu Sandras Sessel. Ich kann es nicht verstehen, was sie miteinander reden, denn die anderen reden auch, sehr laut reden sie alle über das Glyphosat, und die Musik läuft, und deshalb kann ich nicht verstehen, was Timo mit Sandra redet, ich kann es nur sehen. Sie reden und reden und hören gar nicht mehr auf. Sandra nickt und sagt etwas und nickt und lächelt. Sie ist blass und ein bisschen leuchtend, ihr Kleid, aber auch ihr Gesicht, ihre Arme, scheinen zu leuchten, vielleicht reflektiert ihre Haut auf eine besondere Art das Lampenlicht, und derartig schimmernd führt sie ein Gespräch mit Timo, das ihn zu fesseln scheint, denn er dreht sich gar nicht zurück zu uns. Er schiebt, stattdessen, seinen Sessel noch näher an sie heran und mich überkommt ein schlechtes Gefühl. Ich hoffe, dass es nicht Eifersucht ist. Mit mir hat Timo sich noch nie so lange unterhalten, so angeregt, so beschwingt. Mir wirft er nur einen obszönen Satz hin, und dann küsst er mich oder fasst mich am Po an, und das Schlimme ist, dass mir das auch noch gefällt. Ein längeres Gespräch, denke ich, hätte ich mit Timo nicht führen können, weil er gar keine interessanten Gedanken hat, und sie auch gar nicht ausführen könnte, wenn er sie hätte. Er ist nur für kleine Übergriffe bekannt, verbal und auch körperlich.

Ich stehe auf, ich springe auf, und stürze zu den beiden hin. Ich reiche Sandra meine Hand. Ich sage: Hallo, ich bin Stefanie.“ Ihre Hand ist weich und schwer, viel zu schwer eigentlich, als hätte sich jemand bei dem Gewicht dieser Hand vertan, und sie fühlt sich an, wenn man richtig zudrücken würde, wenn man also das richtige Maß eines Händedrucks verfehlte, als könnte man diese Hand zerquetschen, als wäre sie aus Knete, aus einer Art sehr schwerer, bleischwerer Knete gemacht. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken, ich habe tatsächlich die Orientierung ein bisschen verloren.

„Sandra“, sagt Sandra und lächelt mich an. Ihr Gesicht ist leer, und es ist ein sehr gewöhnliches Gesicht, ein durchschnittliches Gesicht, sie könnte eine Büroarbeit bei der AOK machen, in einem Kinderkrankenhaus die Babys pflegen oder auch einen Bus fahren, sie hat das Gesicht einer Frau, die sich nicht auflehnt, die aber auf ihre stille Art sehr nützlich ist für die Gesellschaft, nur, dass die Gesellschaft dies naturgemäß nicht schätzt. Aber aus diesem durchschnittlichen Gesicht blickt sie auf eine erschreckende, auf eine irgendwie brennende Art heraus. Alles an ihr, außer ihr Blick, ist milchig und unscharf und matt leuchtend. Ihre Nähe erschüttert mich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sage, „Wir tragen fast dasselbe Kleid.“ Sie hat gar kein Kleid an, fällt mir ein. Was rede ich?

Sie lächelt und ihr Lächeln ist etwas, das ich nicht vertrage, höhnisch vielleicht. Am liebsten würde ich sie schlagen. Ich sehe die anderen, die sich alle miteinander amüsieren. Ich werde von einer lähmenden Schwäche befallen. Ich gehe zurück zu meinem Sofaplatz. Ich beschließe, mich nicht aufzureiben, und die Dinge einfach hinzunehmen, auch wenn sie sich mir nicht erschließen, ich versuche, mich an dem Gedanken zu erfreuen, dass es ja nicht meine Wohnung ist, in der zwischen Weihnachten und Neujahr eine Sandra im Sessel sitzt. Und da, plötzlich, kommt mir ein wichtiger Gedanke. Saß denn diese Sandra tatsächlich in jedem Jahr, zwischen Weihnachten und Neujahr in diesem Sessel?

„Ich eröffne jetzt das Buffet“, sagt Sabine und klatscht in die Hände. So sind ihre Gesten nun mal, oft recht kindlich. Es strömen auch alle gleich zum Buffet, das neben der Tür zum Flur aufgebaut ist. Ich warte ein wenig, denn ich bin den Strömungen abgeneigt. Wenn alle irgendwohin strömen, dann regt sich in mir ein Widerstand und ich kann mich nur mit äußerster Mühe dazu bringen, denselben Weg zu gehen. Die Anderen sitzen bereits am Tisch mit ihren Tellern voller verschiedener Speisen, als auch ich mich dem Buffet nähere, fast gleichzeitig mit Sandra, die jetzt tatsächlich ihren Sessel verlassen hat. In der Mitte des langen Buffettisches voller Schüsseln und Teller liegt auf einem langen Brett der Aal und sieht mich mit seinen schwarzen Augen aus seinem spitzen, schrumpeligen Gesicht an. Am hinteren Teil seines Körpers sind bereits Teile abgeschnitten worden, aber er hat immer noch eine hübsche Länge. Noch während ich dem Aal in sein vertrocknetes Gesicht schaue, schneidet Sandra mit dem bereitliegenden Messer eben jenes Gesicht vom Körper ab und legt es auf ihren Teller. Mit nichts sonst als diesem Aalkopf begibt sie sich zurück auf ihren Sessel. Ich folge ihr mit den Augen, ich folge ihrem Körper in dem glänzenden Anzug, wie er geschmeidig und ohne an irgendeines der dicht stehenden Möbel zu stoßen, seinen Platz wieder einnimmt. Nun stehe ich allein an dem Buffet, mit dem leeren Teller in der Hand, und ich bin schon wieder mit dem Atmen beschäftigt. Aber ich möchte, während die anderen am Tisch kauen, auch nicht auffallen, ich möchte für mich selbst die Ordnung wiederherstellen, ich stoße den Löffel in Schüsseln, häufe Essen auf den Teller, Brot und gefüllte Eier.

„Hast du den Aal probiert?“, schreit Cornelius, „der Aal ist butterzart.“ Ich starre den Aal an, den geköpften, der zwischen den farbigen Speisen liegt wie ein schwarzer Schwanz.

„Probier ihn!“, schreit Cornelius, er ist in Schreistimmung.

„Nein“, sage ich, „das kannst du nicht verlangen.“

Ich nehme meinen Platz am Tisch wieder ein und wage einen Blick rüber zu Sandra. Ihr Teller steht nackt auf dem Fensterbrett. Sie nimmt einen Schluck Sekt. Hat sie denn, denke ich, diesen Kopf vollkommen und ganz, ohne einen Rückstand zu lassen, in sich hineingefressen? Ich würge.

„Ist dir nicht wohl?“, sagt Timo, und ich weiß plötzlich, dass er mich beobachtet. Die ganze Zeit schon beobachtet er mich. In all seiner Schlichtheit hält er doch in sich eine größere Feinfühligkeit verborgen als all die anderen, als Cornelius vor allem, denke ich, der gar nichts merkt. Ich esse wenig, eigentlich zerkrümele ich nur ein Stück Brot in der Hand und trinke ein paar Gläser Sekt rasch hintereinander leer. Dann tanzen die Oden­thals miteinander. Sie tanzen wie Menschen, die es gelernt haben, miteinander zu tanzen, perfekt tanzen sie, und während ich ihre aufeinander abgestimmten Bewegungen in mich aufnehme, die Harmonie in mich einfließen lassen, verfolge ich in meinen Gedanken weiter die Frage, ob denn die Sandra in den vergangenen Jahren auch bei den Flemmings gewesen ist, und ob ich sie dann einfach nur nicht bemerkt habe. Jetzt zum Beispiel, denke ich, ist sie kaum zu sehen, sie verschmilzt mit ihrem Sessel und der Tapete, sie ist wie ein Teil von Sabines und Dennis’Inventar. Sie ist so selbstverständlich wie der Staub auf den Lampen und Kerzenständern, sie ist wie eines der Kissen, die in sehr ungewöhnlichen Mustern, Stoffen und Formen auf der Sofalehne hocken. Aber schließlich, denke ich, ist sie doch ein Mensch. Und als solcher muss sie doch ein wenig mehr in Erscheinung getreten sein. Ich lehne mich an Cornelius und stelle fest, dass er nach Fisch riecht. Ich frage ihn leise, ob er die Sandra auch im letzten Jahr, zwischen Weihnachten und Neujahr, schon bemerkt hätte. Cornelius lächelt. Er sagt, „Du hättest den Aal probieren sollen, er war köstlich.“

Ich sage: „Ich rede nicht über den Aal, Cornelius“. Er sagt: „Ich weiß, und ich möchte, dass du dich benimmst. Man flüstert nicht den ganzen Abend, in solch einer Runde.“

Ich bin ein Mensch, dem es schwer fällt, die Dinge so zu sehen, wie die anderen sie sehen. Manche Dinge irritieren mich, ich stoße sozusagen an ihnen an, ich gerate richtig aus der Bahn, und ich weiß dann nicht, was das Normale ist, das, an das sich alle anderen Menschen schon gewöhnt haben, nur ich habe es noch nicht gelernt, mich auch daran zu gewöhnen. An diesem Maß der anderen, denke ich, muss ich mich mehr orientieren, dann wird das Leben mir leichter fallen und ich bin nicht so oft erschüttert von diesen Dingen, denn die Erschütterung geschieht ja nur durch mich selbst, durch meine eigene anders geartete Wahrnehmung.

Ich tanze mit Timo, in der Küche lasse ich ihn an meine Brüste fassen. Ich tue es aus Wut. Nicht nur. Es gefällt mir auch.

„Würdet du mit mir schlafen?“, frage ich Timo.

Sie wissen es nicht, denke ich, sie wissen nicht, wer Sandra ist, sie ist ja auch fast gar nicht mehr da. Sie ist nicht mehr da. Und ich schaffe es nicht, mit ihnen Schritt zu halten, in ihrer Normalität, sie sind zu schnell, und wenn ich mich angepasst habe, an ihre Normalität, dann hat sie sich schon wieder verschoben

„Na sicher“, sagt Timo.

„Danke“, sage ich. Es beruhigt mich. Es ist schön, ein kleines Päckchen oben auf dem Schrank liegen zu wissen, das man im Notfall herunterholen, abpusten und dann auswickeln kann.

Um Mitternacht gehen wir nach draußen und schießen eine Rakete ab. Überall ist ein großer Aufruhr. Es blitzt und knallt und die Leute schreien „Prost Neujahr“ und liegen sich in den Armen. Auch wir liegen uns alle in den Armen, jeder einzelne im Arm jedes einzelnen, und ich muss ein bisschen weinen. Ich muss Silvester immer weinen, weil es mir so unbarmherzig die Zeit vor Augen hält, die vergeht, auch wenn ich gar nicht an der Vergangenheit hänge. Wieder in der Wohnung der Flemmings sind alle aufgekratzt, auch ich fühle mich etwas erleichtert und auch ernüchtert, wie bei einem Eintritt in den Alltag, aus dem Festsaal der Erwartung in die Hütte des Alltags. Ich torkele herum, und mache zackige Bewegungen mit den Hüften, auf den dicken Teppichen in der Wohnung der Flemmings, zu der Musik von Abba, während sie am Tisch jetzt das Erstarken der Rechten in Europa diskutieren. Ich habe nun endlich Hunger bekommen, und greife mit den Fingern in die Speisen des Buffets. Ich stopfe mich regelrecht voll und erst als ich den Rest des Aales bemerke, drehe ich mich nach Sandra um, die ich tatsächlich mit Anbruch des neuen Jahres ganz vergessen hatte. Ich sehe nach ihrem Sessel am Fenster hin, und da muss ich mich schon sehr anstrengen, auch weil ich schon sehr viel Sekt in mich geschüttet habe, um sie noch wahrzunehmen, so sehr verschmilzt sie mit dem Muster und in ihrer Möbelhaftigkeit mit der ganzen Wohnung. Da fällt es mir ein, wie es Sabine gesagt hat, dass sie, am Neujahrsmorgen schon, nicht mehr da sein wird. Und ich denke, sie wird auch nicht gegangen sein, denn gehen und kommen, das tut sie nicht, sie wird einfach nicht mehr da sein. Mich interessiert das gar nicht mehr so sehr, merke ich, je mehr sie verschwindet, umso mehr verschwindet auch mein Interesse, es ist wie bei den Toten, für die sich nach einer Weile auch keiner mehr interessiert. Aber aus dieser Erleichterung des nachlassenden Interesses und also auch der nachlassenden Irritation heraus gehe ich noch einmal zu ihr rüber. Sie sitzt da, die Hände in ihrem Schoß gefaltet und lächelt einfältig, wie ein Kind, auf einem ganz alten Gemälde, und ich sage: „Prost Neujahr, Sandra!“ Und Sandra will das Glas nehmen, das neben ihr auf dem Fensterbrett steht, aber ihre Hände greifen durch das Glas hindurch, sie sind zu immateriell, um noch ein Glas heben zu können, und es verzieht sich schmerzlich ihr Gesicht, bei diesem aussichtslosen Versuch.

„Tja“, sage ich, und nehme selbst ihr Glas vom Fensterbrett und halte es ihr an die Lippen, die sich demütig öffnen, und schütte ihr den Sekt in den Mund, es überkommt mich einfach so, ich bin betrunken und voll tödlichem Übermut. Der Sekt läuft durch sie hindurch auf den Sessel und nässt den Stoff. Ich betrachte es alles voll Schadenfreude.

„Stefanie!“, ruft Sabine scharf, und ich drehe mich um. Da sind sie alle und sehen mich an, nicht ganz ohne Vorwurf.

„Ich wollte ihr helfen.“, sage ich.

„Wem?“ sagt Cornelius, „wem wolltest du helfen?“

Sie wissen es nicht, denke ich, sie wissen nicht, wer Sandra ist, sie ist ja auch fast gar nicht mehr da. Sie ist nicht mehr da. Und ich schaffe es nicht, mit ihnen Schritt zu halten, in ihrer Normalität, sie sind zu schnell, und wenn ich mich angepasst habe, an ihre Normalität, dann hat sie sich schon wieder verschoben, ich brauche mich gar nicht erst zu bemühen, ich schaffe es nie. Ich wende mich wieder Sandra zu, sie ist noch da, ein ganz kleines bisschen. „Sandra“, sage ich, „schön, dich kennengelernt zu haben.“

Sie lächelt, während sich ihr Mund auflöst, sie legt den Kopf ein bisschen schief, er fällt fast von ihrem Hals, sie sagt: „Dito“. Und dann ist sie weg. Ich drehe mich wieder zu den anderen um, triumphierend, ich sage: „Habt ihr das gehört?“

Sie haben es nicht gehört. Ich weiß. Aber spielt es eine Rolle? Es sind meine Freunde. Sie sind gute Leute. Es gibt ein neues Jahr, schon wieder, und wir sind nun mal alle so, wie wir hier sind, zusammengekommen. Es gibt kein anderes Leben.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.

Imke Staats ist Illustratorin und lebt in Hamburg. Im Oktober waren Zeichnungen von ihr in der Ausstellung „Bikini 2017“ zu sehen.