ZEIT.ORTE

René Hamann, 1971 in Solingen-Ohligs geboren, studierte in Köln und arbeitet als Autor und freier Mitarbeiter der taz. Er wohnt in Berlin-Neukölln. 2005 erhielt er u. a. ein Arbeitsstipendium für Schriftsteller des Berliner Senats, 2006 den Lauter-Niemand-Lyrikpreis. Zuletzt erschien das Buch „Die Suche nach dem Glam“ (Texte aus seinem Blog) in der edition taberna kritika, Bern.

Warnung vor dem Bösen (2)

René Hamann

Stück in mehr als 9 Szenen

In den Zeiten des Berliner Nahverkehrs. In der beginnenden, abschwellenden Ära des iPhone 8.

U5 Alexanderplatz–Frankfurter Allee (Fortsetzung)

Immer ist da ein Mann mit Rucksack.

Eine Frau mit Strohhut steigt ein. Sie zieht das Bein rechtzeitig ins Wageninnere, bevor sich die Türen automatisch zuziehen. Eine Frau im Sommerkleid und mit Strohhut. Eine Frau mit Ehrgeiz. Eine Frau, die Souveränität vortäuscht. Sie setzt sich, behält den Hut auf, kramt in ihrer Markenhandtasche, betupft ihre Lippen mit Lippenbalsam. Danach streicht sie sich mit den Fingerspitzen über die Augenbrauen und kontrolliert ihre Fingernägel. Sie kommt von der Tantra-Massage. Sie hat etwas blasse Haut, die sich stellenweise gerötet hat. Blick aufs Berliner Fenster, das eine „Explosion im Drogenlabor“ meldet.

Ein Staubsaugervertreter, der aus dem Leim geraten ist. Er hustet. Ein Fahrradkurier ohne Fahrrad in der Kluft seines Arbeitgebers. Ein Robert-Smith-Lookalike. Er zögert kurz, bevor er den Waggon betritt. Hinter ihm eine Studentin mit Erfolgswut. In Pluderhosen. Dann eine ältere Dame mit intellektueller Ausstrahlung. Ein Mann mittleren Alters. Ein Mann im Alter eines Familienvaters. Ein Mann mit dem körperlichen Umfang eines Familienvaters. Mit der Stattlichkeit. Der Statur. Der fortschreitenden Haarlosigkeit, der wachsenden Plauze. Ein Mann mit Dad Bod. LEIDER GEIL.

Im Berliner Fenster jetzt Bilder von Spanien im Schnee.

„Na, glücklich? Geht auch vorbei.“

In Barcelona, noch Spanien, versucht man, die in den U-Bahnhöfen Herumlungernden mit klassischer Musik zu vertreiben. Es hat etwas Unwirkliches, in diesen Schächten oder Schläuchen zu stehen und Ravel zu hören. Oder Chopin. Oder Beethoven. In Barcelona gibt es auch Fahrtenanzeiger mit Countdown: Die Sekunden bis zur Ankunft der nächsten Bahn werden heruntergezählt. Punktgenau.

„Jemand etwas Klimpergeld?“

Obdachlose als Wiedergänger. Die Rückkehr der Verdrängten der Reichen und der Mitte und der unteren Mitte der Gesellschaft.

Die Schlagzeile EHERING AUFGEFLOGEN schreit vom Titelblatt einer Boulevardzeitung. Die Leute gehen unfreiwillig in Deckung. Es spukt. CYRIL VERZWEIFELT AN DER EXISTENZ GOTTES wäre auch eine schöne Überschrift gewesen.

Ein nordisches Wesen, weißblonde Haare, runde Brille mit Goldrand, schmale Fassung, erzählt ihrer Freundin von schwedischen Drinks. Malmö im Sommer. Da ist ein Raum, und der verändert sich, sobald sie ihn betritt. Ein kleiner türkischer Junge trägt einen ferngesteuerten Hubschrauber auf dem Schoß. Ob er ihn bald durch den Waggon fliegen lässt?

Ein junger Hipster schafft gerade noch so den Aufsprung. Türen schließen selbsttätig. „Danke“, ruft er in Richtung des U-Bahn-Führers, der das nicht hören kann.

Ein Leuchten im Magen, ein Leuchten in den Augen. Auf den Displays Musikclips. Die Selbstfeier auf einem Stadionkonzert. Wunderkerzen, Feuerzeuge, Umarmungen im Konfettiregen. Nicht im Bild: Die Schlangen vor den Dixieklos, der überall im Matsch liegende Müll, die Ketchupflecken, der Schweißgeruch, die Platzangst, die grapschenden Hände, überteuerte Bockwürste, die verdreckten Turnschuhe, der Uringestank, die klamme Nähe. Nächster Clip: Knutschen im Supermarkt. Rollendes Girl im Einkaufswagen, vom Boy lustig durch die bunt leuchtende Nacht geschoben.

„Ich bin auf der Sonnenseite.“

„Ich könnte mir stundenlang Wellen ansehen. Und Stechpalmen.“

„Guten Tag, die Fahrausweise bitte.“

Checkertypen. Einer mit einem Shirt, auf dem ein Milchshakebecher gedruckt ist, auf dem wiederum OH YEAH steht. Ein anderer mit einem NASA-Shirt. Einer schläft. Eine telefoniert, einer liest, zwei, drei tragen Kopfhörer. Zeitungen keine. Niemand ohne Fahrschein.

Ein Inder mit Rosen.

„Hallo, ich bin Ute.“

„Ich nicht.“

„Die Kontrolleurinnen sehen alle gut aus, aber nicht eine Passagierin.“

„Die Kontrolleurinnen sehen alle Bombe aus.“

„¿In serio?“

„Der Zugverkehr ist unregelmäßig.“

„Sie legte ihren Kopf auf meinen Schoß, und ich bemühte mich hart, keine Erektion zu bekommen.“

„Woran erkennt man Kontrollettis? An den Gürtelschnallen. Klingt wie ein Witz, ist aber keiner.“

„Dieses Twitter-Warnsystem hat sich irgendwie nicht so recht durchgesetzt.“

„Ja, schade. Hätte so sein können wie mit den Blitzern. Heutzutage meldet jeder Verkehrsfunk im Radio, wenn die Polizei mit Blitzern unterwegs ist.“

„Ist aber nicht.“

„Sie steigen nächste Station mit aus, bitte.“

„Das Realitätsprinzip ruft an. Die Party ist vorbei.“

„Ist auch spät genug.“

„Aber was macht man, wenn die Party vorbei ist?“

„Man schläft sich aus. Erholt sich. Kümmert sich wieder um seinen Scheiß. Bis zur nächsten Party.“

„Und wenn nie wieder eine Party stattfindet?“

„Dann gibt es Familienfeiern. Freue dich auf die nächste Familienfeier.“

Manspreading überall. Sogar Frauen machen das. Manspreading und She-Bagging. Die gespreizten Beine, die seitlich ausgelagerten Handtaschen. Platz da, hier sitze ich.

Eine Frau mit Krücke (nicht assistenzbedürftig) neben einer Frau mit Gips (der Unterarm!). Knapp neben ihrem Ohr geht das Telefon eines neben ihr stehenden Manns los. Er spricht auf Arabisch auf das Gerät ein, die Frau mit Krücke vollzieht dazu eine Geste der Empörung, die keinerlei Echo findet, nicht bei dem Telefonisten, nicht bei der Frau mit Gips. Eine Performance, die ganz bei sich bleibt.

Ich bin ein schlafender Riese.

Wieder einer, der von Kleingeld für eine Unterkunft redet.

Und immer ist da ein Mann mit Rucksack.

Der einen mit Blicken auszieht.

„Geil ist ja auch, die Trainingsjacke nur über einem Unterhemd zu tragen. Und dann den Reißverschluss so ein Stückchen offen zu lassen. Noch geiler: gar kein Unterhemd. Bloßer Oberkörper unter Trainingsjacke. Und man lässt ein Stückchen davon sehen.“

„Am besten noch eine Halskette tragen. So eine superlange.“

„Mit Kruzifix.“

„Mit Kruzifix.“

S-Bahn Ring, Frankfurter Allee–Wedding

Schweißausbruch, während die Wagentüren auf- und wieder zugehen. Auf und wieder zu. Eine Station, dann noch eine Station. Ich überlege, ob mir schlecht wird. Ich bin ziemlich fertig. Draußen gleiten Bahnhöfe vorbei, Bahnhöfe ohne Namen. Bahnhöfe, die man erraten muss. Einstieg, Ausstieg. Ein Obdachloser nicht mit Einkaufswagen oder Hackenporsche, sondern mit einem ausrangierten Rollkoffer. Er hält die Taschenlampe in den Mülleimer. Er leuchtet den Müll aus.

„Das Pfandsystem ist schuld.“

„Wie meinen?“

„Das Pfandsystem. Das Pfandsystem ist schuld. Es taugt zu nichts. Es taugt zu nichts anderem als dazu, die Armut sichtbarer zu machen. Es hat eine parasitäre Subindustrie geschaffen, das Pfandsystem. Deutschland sucht das Flaschenpfand. Sonst ist es zu nichts gut! Ich war neulich in Spanien. Niemand schaut dort in die Mülleimer! Niemand! Aber liegen überall Bierflaschen herum? Nein, es ist absolut sauber. Fast genauso sauber wie hier. Keine Bierflaschen, kein Müllproblem. Sicher, da laufen auch viele Arme herum. Manche mit Einkaufswagen. Die sammeln Schrott ein. Altmetall. Da sitzt auch mehr drin, geldmäßig.“

Ein Fernsehstudio, in dem ein nagelneues Auto steht. Ein Gewinn in der Quizshow. Das ist so die Vorstellung. Der Traum. Oder es holt die Lotterie sie hier raus.

Ein junger Mann setzt sich auf den Einzelsitz in der Ecke, umbeint seine eingepackte Gitarre. Man möchte ihm am Bart zupfen. Man möchte ihm mit der Schere das Hemd, die Brust aufschneiden.

„Meine Tochter heißt Jennifer Michelle. Ich wollte Jennifer, meine Frau Michelle, also haben wir sie so genannt: Jennifer Michelle.“

„Zum Glück sehen nicht alle Leute gut aus.“

„Ich sehe aus wie George Michael.“

„George Michael ist tot, Mann.“

„Nein, das ist Vincent Price.“

„Hä? Wer?“

Die Bahn leert sich. Füllt sich. Leert sich. Füllt sich. Etwas weniger. Etwas weniger Menschen als vorher.

„Wo steckt eigentlich Birgit? Eben saß sie noch neben mir …“

„Sie ist früher aufgestanden, sie lässt sich entschuldigen.“

„Ich habe doch sie geheiratet, damit sie mir nicht wegläuft.“

„ … „ (unverständlich)

„Sie ist wie Gott. Sie ist Gott für mich. Ich meine, sie ist nie da. Ich sehe sie nicht. Aber ich weiß, dass sie existiert. Wenn ich will, kann ich sie anrufen. Und ich liebe sie, wie man Gott liebt, und sie liebt mich genauso. Es ist eine göttliche Verbindung. Eine endlose Schleife, denn diese Verbindung wird sich niemals ändern. Sie wird auch nicht konkreter oder näher oder so. Wie gesagt, sie ist nie da. Sie wird auch nie kommen. Sie ist Gott.“

„Uiuiui. Fast schon: oje.“

„Ja.“

„Zum Glück gibt es im Frühling diese Obi-Momente.“

„Verlangen Sie auch die große Dose.“

„Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt.“

Fortsetzung folgt