berliner szenen Killerinstinkt

Der Zeitungstrick

Manchmal habe ich Lust, jemanden so richtig zu vermöbeln. An solchen Tagen setze ich mich ins Café Cinema und lese Zeitung. Natürlich lese ich nicht wirklich Zeitung, ich tue nur so und blättere unauffällig. Sobald ich bei den Todesanzeigen angelangt bin, sagt mir eine innere Stimme: „Den Nächsten, der reinkommt, knöpfst du dir vor.“ Mein Problem jedoch besteht darin, dass ich oft ins Café Cinema gehe und so gut wie jeden Gast kenne. Das bringe ich dann einfach nicht übers Herz.

Letzte Woche war ich dann doch ziemlich nah dran. Ein fremdes Gesicht trat ein. Die junge Frau sah aus, als sei ihr eine ziemlich große Laus über die Leber gelaufen. Zunächst dachte ich an den großen Wurf, doch dann merkte ich, dass sie hübsch war. Sie konnte nichts dafür, aber die traurigen Sommersprossen standen ihr richtig gut. Mir verging ziemlich schnell die Lust auf Dresche.

Ein paar Minuten habe ich es ausgehalten, dann habe ich sie gefragt, ob sie einen Schnaps gebrauchen könne und jemanden zum Reden. Ich erfuhr, dass ihr keine Laus über die Leber gelaufen war, sondern vorne in der Oranienburger Straße eine falsche Schlange, und der wolle sie schon lange den Hals umdrehen. Ob ich das nicht kenne, diesen Killerinstinkt, fragte sie. „Darin bin ich Experte“, prahlte ich. Ich beschloss, ihr zu helfen, und verriet meine Methode mit der Zeitung. Sie war sehr interessiert. Mit jedem Schnaps wurde sie friedlicher, und schließlich saß sie um kurz vor sieben im Café Cinema und versteckte Hunderte trauriger Sommersprossen hinter einer Tageszeitung, während ich mit ihrer Telefonnummer in der Hand nach Hause lief und am liebsten jedem Passanten um den Hals gefallen wäre. JOCHEN WEEBER