Unbekanntes Indect

PROTEST Nur wenige folgen dem europaweiten Aktionstag gegen das Überwachungssystem

■ Nach der tödlichen Prügelattacke am Berliner Alexanderplatz will Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen verstärken. „Ich halte es für richtig, dass an Plätzen oder Straßen, an denen es auffällig viel Kriminalität gibt, mehr Kameras installiert werden“, sagte er der Welt am Sonntag.

■ Von der Tat gibt es keine Videoaufnahmen. Nur die Aufzeichnungen der Kameras vom nahen Bahnhof und den umliegenden Gebäuden wurden ausgewertet.

■ Nach Ansicht Friedrichs sind Videokameras ein sehr effizientes Mittel, das oft abschreckend und präventiv wirke.

■ Kritik an Friedrichs Vorstoß kam von SPD und Linken. „Seine Forderung nach einer Videoüberwachung à la Big Brother auf allen großen Plätzen führt nirgendwo zu mehr Sicherheit, wohl aber zu einem Gefühl der totalen Überwachung“, erklärte der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion. Der Linken-Politiker Jan Korte warf Friedrich Populismus vor. „Mehr ■ Videoüberwachung verhindert keine Gewalt“, erklärte Korte.

Videoüberwachung gibt es in Deutschland vor allem in Flughäfen, Bahnhöfen, Banken und öffentlichen Verkehrsmitteln. (dpa, afp)

BERLIN taz | Es ist ein kleiner Haufen, der sich am Samstag vor dem Roten Rathaus in Berlin versammelt hat. Sechs Männer in schwarzen Kapuzenpullis tanzen vor dem Neptunbrunnen. Ein paar Meter weiter steht ein zur Bühne umfunktionierter Lkw. Insgesamt stehen gerade mal etwa 100, meist junge Leute davor. Ein Mann mit Dreadlocks streckt ein Plakat in den Himmel, „Überwachung – indecke die Möglichkeiten“ steht darauf.

Das Wortspiel ist ein kryptischer Hinweis auf das Thema, um das es den zumeist jungen Demonstranten geht. Sie sind Teil eines europaweiten Aktionstags gegen Indect. Piraten, Grüne, Datenschützer und die Anonymos-Bewegung haben zum Protest gegen dieses von der EU finanzierte Forschungsprojekt aufgerufen. Es soll zum Beispiel ermöglichen, herkömmliche Videoüberwachung mit Bild-Erkennungsprogammen und Daten aus sozialen Netzwerken zu verknüpfen. So sollen von Menschen, die sich irgendwie auffällig verhalten, blitzschnell Fahndungsprofile erstellt werden können. Das Projekt erinnert an den Science-Fiction-Film „Minority Report“. Doch die Realität hat die Fiktion längst eingeholt – schon 2014 könnte ein solches Überwachungssystem angewandt werden.

Der Demoaufruf wiederum erinnert an die erfolgreichen Proteste gegen das geplante internationale Handelsabkommen Acta, zu denen im Frühjahr europaweit per Facebook und Twitter mobilisiert worden war. Damals kamen Zehntausende, weil sie um die Freiheit des Internets fürchteten. Die Kritik an Indect aber spricht die Massen bisher nicht an.

Nicht nur in Berlin blieb der Aufmarsch klein. In Stuttgart kamen kaum mehr. In Paris passten alle Demonstranten locker auf ein Gruppenfoto vor dem Eiffelturm. In Dortmund drohte der Anmelder per Facebook zwischenzeitlich gar, die Veranstaltung abzubrechen, weil nur „etwas 20 Leute da“ seien. Später fügte er hinzu: „Okay, mittlerweile sind wir genug, dass es nicht ultrapeinlich ist.“

Die Organisatoren der Berliner Demonstration bleiben trotzdem optimistisch. Acta sei auch erst zwei Jahre nach den ersten Protesten von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen worden, sagt die Piratin Mareike Peter vom Orga-Team. „Aber mit illegalen Downloads kann man viel mehr Leute mobilisieren als mit einem europäischen Forschungsprojekt“, fügt sie hinzu.

Diesmal kann von einer Wahrnehmung durch die breite Öffentlichkeit keine Rede sein. Die Demonstranten in Berlin sorgen zwar durch laut dröhnende Bässe für Aufmerksamkeit, doch keiner der Passanten hat je etwas von Indect gehört – oder fühlt sich dadurch bedroht.

Im Gegenteil. „Wir haben ja gesehen, was so alles passiert“, sagt die Passantin Karin Dittmann. Vor wenigen Tagen wurde ein paar Meter entfernt von hier am Alexanderplatz ein junger Mann totgeprügelt. „Ich hab nichts dagegen, wenn mein Gesicht gescannt wird – wenn es der Sicherheit dient“, sagt Dittmann. Sie verhalte sich ja auch nicht auffällig, meint die 60-Jährige.

Forschung für die öffentliche Sicherheit, „das lässt sich gut verkaufen“, weiß auch die Piratin Peter. Doch für sie und die anderen Demonstranten hat das Überwachungsprojekt nichts mehr mit Sicherheit zu tun. Vor dem Reichstag, dem Ziel ihrer Route, strecken sie ihre Plakate in den Himmel, „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren“ steht darauf, ein Zitat von Benjamin Franklin. Aber es ist fast niemand da, der es lesen könnte. Auf dem Platz verhallen die Elektrorhythmen. JULIA AMBERGER