Jeder 20ste Berliner ist ein Analphabet

Ein verschwiegenes Problem, das mehr Aufmerksamkeit benötigt. Heute ist Weltalphabetisierungstag

Andrea Schneider* hat lange gebraucht, bis sie ihr Problem tatkräftig lösen wollte. Der 34-Jährigen war es äußerst peinlich, so grundlegende Dinge wie Lesen und Schreiben nicht zu beherrschen. Schließlich fand sie den Mut, Kontakt aufzunehmen zum Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe Berlin (AOB). Mittlerweile kann sie einigermaßen lesen und auch kurze Notizen schreiben.

Rund 160.000 BerlinerInnen sind Analphabeten, schätzt Marie-Luise Oswald vom Verein Lesen und Schreiben e. V. Dabei handelt es sich um ein gesellschaftliches Phänomen, das noch immer eher „mit Afrika, aber nicht mit unserem eigenen Land in Verbindung gebracht wird“, meint auch Peter Scholz, zuständiger Referent in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.

Während in der Dritten Welt Armut und schlechte Bildungssysteme dafür verantwortlich sind, dass Menschen nicht Lesen und Schreiben lernen, liegen die Gründe in Ländern mit Schulpflicht in persönlichen Lebenskrisen. Meist verursachen traumatische Ereignisse die Lernschwäche, auf die – meist – durch die Lehrenden nicht richtig eingegangen wird. Die Kinder werden in der Schule irgendwie mitgeschleppt und gelten nicht selten als weniger intelligent. Sind aus ihnen erst Erwachsene geworden, wächst mit jedem Jahr die Hemmschwelle, sich zu der Bildungsschwäche zu bekennen.

Selten gehen sie von alleine zu Beratungsstunden für Analphabeten. Deswegen spielen Freunde und Verwandte eine wichtige Rolle, sie können den Betroffenen Mut machen, sich helfen zu lassen, sagt Scholz.

Um aber überhaupt darauf aufmerksam machen zu können, dass in Berlin jeder 20ste nicht richtig lesen und schreiben kann, sei Öffentlichkeitsarbeit dringend notwendig, meint Scholz. Dafür seien Aktionstage wie der Weltalphabetisierungstag am heutigen 8. September „sehr wichtig“.

In Berlin gibt es derzeit drei Anlaufstellen für Menschen mit Lese- und Rechtschreibproblemen: den AOB in Kreuzberg, den Verein „Lesen und Schreiben“ in Neukölln und die Volkshochschulen der Stadt. Alle drei beteiligen sich am heutigen Alphabetisierungs-Aktionstag und stellen ihre Arbeit vor. Lesen und Schreiben e. V. veranstaltet ein Hoffest und präsentiert sich in einer Ausstellung. Ähnlich wie beim AOB kommen auch ehemalige Analphabeten zu Wort, die selbst verfasste Texte vortragen. Der Deutsche Volkshochschulverband wird in der Saarländischen Landesvertretung über die Arbeit der Verbände landesweit und die Erfahrungen mit dem Alfa-Telefon und dem neuen Online-Lernprogramm berichten.

VERONIKA DE HAAS

* Name geändert

Info: www.aobberlin.de, www.lesen-schreiben.com, www.apoll-online.de