Buchrezensionen

Auf der Beerdigung des Duke, die hinkende Kuh und Schüler mit Leistungskummer. Die Achtziger vergehen nie. Einer ist in Konstantinopel, es geht auch um Sex. Fliegen ohne Flügelschlag und schon wieder ein Scirocco. Die Leser brauchen eine Klimax, die Busfahrer streiken.

Der Leutnant des Dschihad

Eigentlich ist Edgar Stern Journalist. Dann kommt der Erste Weltkrieg und er meldet sich als Offizier. Am Rhein, wo er stationiert ist, hält es ihn aber nicht lange. Denn er hat einen Plan, wie Deutschland den Krieg siegreich für sich entscheiden kann. Mit seinem Vorhaben stößt er beim Kriegsministerium zunächst auf offene Ohren, eine militärische Intervention der Türkei macht sein Vorhaben aber zunichte.

Dafür wird Stern auf eine andere Mission nach Konstantinopel geschickt, wo er, als Jude, den Sultan dazu bewegen soll, in der muslimischen Welt den Dschihad auszurufen. Da zahlreiche Kolonien Russlands, Frankreichs und Englands dazugehören, würde sich der Krieg auch auf diese Weise zugunsten Deutschlands wenden lassen, so die Hoffnung im Berliner Ministerium. Stern wird darauf mit einer Truppe nordafrikanischer Kriegsgefangener, die auf Seiten der Franzosen gekämpft hatten, an den Bosporus geschickt.

Jakob Hein, der sich mit seinen Romanen bisher in der Gegenwart bewegt hat, nahm für „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ eine historische Vorlage. Edgar Stern-Rubarth, so sein vollständiger Name, war während des Ersten Weltkriegs tatsächlich im Nahen Osten eingesetzt. Auch für das übrige Personal hat sich Hein an historische Figuren gehalten.

Der ironische Tonfall, in dem Hein diese Geschichte erzählt – jedes Kapitel ist aus der Sicht einer der beteiligten Personen geschrieben –, passt sich dem Stoff gut an. Man kann das hier und da ein wenig altväterlich finden, doch ist Heins Figurenzeichnung psychologisch stets genau. In Heins Personaltableau treffen preußische Militärs, darunter etwa der Orientalist Karl Emil Schabinger von Schowingen, der später der NSDAP beitreten sollte, auf kriegs­unerfahrene Nordafrikaner wie Tassaout aus dem Atlas, der auch ohne Deutschkenntnisse einen recht klaren Eindruck vom Geschehen um sich herum bekommt.

Hein gibt seine Figuren dabei fast nie der Lächerlichkeit preis. Auch die weniger sympathischen Mitstreiter dieses Unternehmens kommen einem als Personen stets so nah, dass man ihre Motive zumindest verstehen kann. Und aktuell ist das Buch allemal durch die Skizzierung der Rolle, die die Deutschen bei der Instrumentalisierung des Dschihad gespielt haben.

Tim Caspar Boehme

Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“. Galiani Verlag, Berlin 2018, 256 Seiten, 18 Euro

Temporäre autonome Zone

Es stinkt in den Straßen von Porto Alegre, die Hitze brennt und die Busfahrer streiken. Dort zu Besuch in ihrer alten Heimatstadt, wird Aurora per Twitter-Nachricht von der Ermordung Andrei Dukelskys überrascht. Ende der neunziger Jahre hatten sie gemeinsam als Studenten Orangotango, eines der ersten Online-Fanzines in Brasilien, herausgegeben und sich danach aus den Augen verloren.

Auf der Beerdigung des „Duke“, des charismatischen Kopfes der ehemaligen Gruppe und später gefeierten Literaten, treffen nun die alten Weggefährten Aurora, Antero und Emiliano nach über zehn Jahren wieder aufeinander. Aus den wechselnden Perspektiven dieser drei Protagonisten entsteht in „So enden wir“ das subtile Porträt einer Generation, der sich auch der 1979 in São Paulo geborene Schriftsteller Daniel Galera zugehörig fühlt. In seinem Roman waren die ehemaligen Freunde Ende der 1990er Jahre Teil einer subkulturellen Avantgarde, die mit digitaler Kommunikation und virtueller Öffentlichkeit zu experimentieren begonnen hatte – begeistert von Hakim Beys anarchistischer Idee „temporärer autonomer Zonen“.

Längst sind Internet und technologischer Fortschritt Alltag geworden, die Lebensverhältnisse aber bleiben für viele, auch aus der brasilianischen Mittelschicht, prekär.

Als Biologin erforscht Aurora inzwischen an der Universität von São Paulo den Biorhythmus des Zuckerrohrs. Beruflich erschöpfen sie die Machtkämpfe des wissenschaftlichen Betriebs. Privat erlebt sie Intimität vor allem als Cybersex auf Amateurlivestreamwebsites wie „Chaturbate“. Währenddessen Antero, der großsprecherische Nachfahre finnischer Einwanderer, die frühen Erfahrungen mit ersten viralen Posts längst ins Standardrepertoire seiner erfolgreichen Werbeagentur übernommen hat. So empfindet er die wütenden Straßenproteste gegen die Erhöhung der Busfahrpreise, in die auch er sich 2013 zufällig stürzt, vor allem als gelungene Simulation für die sozialen Netzwerke.

Emiliano, der damals mit Anfang zwanzig seine erste homosexuelle Erfahrung in einer einmaligen intimen Begegnung mit Andrei Dukelsky machte, wird nun mit der Biografie über den rätselhaften Schriftsteller und die seltsamen Umstände seines Ablebens beauftragt.

In „So enden wir“ entwirft Galera ein kontrastreiches, widersprüchliches Szenario menschlicher Erfahrungen und Empfindungen vor dem brasilianischen Hintergrund wirtschaftlicher Krisen, spürbarem Klimawandel und politischer Instabilität. Über unterschiedliche Erinnerungen nähern sich Aurora, Antero und Emiliano der euphorisch erlebten, für sie prägenden Vergangenheit an. Ernüchtert, aber deutlich erkennen sie darin sich selbst. Eva-Christina Meier

Daniel Galera: „So enden wir“. Aus dem Portugiesischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Berlin 2018, 232 Seiten, 22 Euro

Schmerz, Liebe und Zigaretten

Am Anfang steht das Trauma. Wie schon in ihrem ersten Roman „Der Mauerläufer“, der mit einem Autounfall und einer dabei verursachten Fehlgeburt begann, startet Nell Zink auch ihr drittes Buch (das zweite, „Mislaid“, liegt bisher nicht auf Deutsch vor) mit einer Tragödie. Die 23-jährige arbeitslose Business-Studies-Absolventin Penny verbringt die letzten Tage ihres todkranken Vaters, einem jüdischen Schamanen, an dessen Krankenbett. Der Verlust nimmt Penny mit wie niemanden sonst in ihrer Familie, nicht ihre junge kolumbianische Mutter (sie ändert ihren Facebook-Status am selben Tag noch auf Single) und auch nicht ihren zynisch kapitalistischen Stiefbruder Matt. Dieser ermutigt Penny, ein verlassenes Haus ihres Vaters in einem ärmeren Bezirk New Jerseys aufzusuchen, um es für den Verkauf auf Vordermann zu bringen und eventuell noch einen Gentrifizierungsprozess anzustoßen. Doch als Penny ankommt, ist das Haus längst besetzt. Von einer Gruppe von Aktivisten, die sich für die Rechte von Rauchern einsetzen – und ihr Zuhause „Nikotin“ nennen.

Mit einem brillanten Blick für die Außenseiter einer durchgenormten Konsumgesellschaft zeichnet Nell Zink von hier aus ein Figurenensemble, das sich so hoffnungslos widersprüchlich wie die US-Linke und so aufregend vielseitig wie der Cast einer Netflixserie entwickelt. Die kalifornische Schriftstellerin, die mit 50 Jahren ihren ersten Roman veröffentlichte und inzwischen in Bad Belzig in Brandenburg lebt, hat mit „Nikotin“ ihren dritten Roman in nur 18 Monaten geschrieben.

In rasantem Tempo kommen hier immer mehr neue besetzte Häuser, immer neue Figuren und Beziehungen mit ganz eigenen Dramen und Absurditäten zusammen. Es geht um transzendentale Erfahrungen, um Schmerz und Liebe. Zugleich loten die Anarchos in zum Schreien komischen Dialogen die Möglichkeit einer Revolution aus.

Und ja, es geht auch um Sex. Denn Penny verliebt sich in den „Nikotin“-Bewohner Rob, der asexuell ist und zugleich verliebt in die verruchte kurdische Mitbewohnerin Sorry. Auch dieses Beziehungsdreieck macht Zinks Buch zu einem wahren Pageturner, denn die Leser*innen sehnen sich selbstverständlich nach einer Klimax. Und ja, sie werden sie bekommen. Fatma Aydemir

Neil Zink: „Nikotin“. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Rowohlt, Reinbek 2018, 398 Seiten, 22,95 Euro

Die Subversivität von YouTube-Videos

Es ist so: Man muss dieses Buch anders lesen. „Serverland“ von Josefine Rieks, das Debüt einer ehemaligen Hildesheimer Schreibschülerin, tut nämlich nur so, als sei es ein Science-Fiction-Roman. Es spielt in der Zukunft, irgendwann in den kommenden dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahren; das Internet wurde per Volksabstimmung vermutlich aus Angst vor Terror abgeschafft; ein paar Jugendliche jedoch haben eine Lagerhalle in Holland in der Nähe von Groningen ausgemacht, in der unbekannte digitale Schätze lagern, wie auch der hinzugerufene Computer-Nerd und Postangestellte (!) Reiner, der Erzähler, erkennt. Also wird ein Camp improvisiert, politisch gefachsimpelt, es gibt Plenum und Überlegungen zur Strategie, bis der Run von außen einsetzt und, simpel gesagt, die Masse, das Geld und das Besitzdenken die Idee zersetzen.

Es handelt sich also gar nicht um ­Science-Fiction, sondern um, sagen wir, eine retromanische Fantasie: um eine Geschichte, die nur scheinbar in der Zukunft spielt, eigentlich aber die Vergangenheit und damit wiederum die Gegenwart meint. Und die sagt, dass Jugendkulturen seit jeher dazu verdammt sind, die historische Vorlage von 1968 mehr schlecht als recht zu kopieren, und zwar immer und immer wieder, und dass sie irgendwann sogar die Kopien kopieren und dabei immer undeutlicher werden. Und dass jede kulturpolitische Avantgarde, wie auch die digitale (wie bereits zu sehen war), dem Untergang geweiht ist. „Maybe it’s idealism – or it’s just showing off“, wie eine Randfigur im Buch sagt.

Wenn man so will, ein Buch als Symptom: Alles sieht irgendwie wie früher aus, jedenfalls für die, die sich noch erinnern. Tankstelle, Holland, Haribo, Dosenbier, Snickers, VW Scirocco. Zurück in die Zukunft, also ungefähr ins Jahr 1985. Es wird so geredet wie früher (wenn man sich noch als links versteht), nämlich in bei Guy Debord gelesenen Theorieblasen oder als x-te Variante hippiesken Gelabers an den Lagerfeuern der westlichen Welt. Für die, die sich nicht erinnern, mag das alles neu sein. Es bleibt unheimlich: Es sieht wie Wiederkehr aus.

Wer diese Jugendkultur nicht versteht, sollte mal ins „Loophole“ (sic) gehen, einem kleinen Club in Berlin-Neukölln. Dort sieht alles aus wie in den achtziger Jahren: nackt, abgeranzt, einfach, es wird amerikanisches Englisch gesprochen, Mode und Frisuren sind von vorgestern, das Bier kommt aus dem Kasten, und die Musik ist düster. Ein Zeitloch. Dachte man in den Achtzigern, die Sixties würden nie vergehen, sind es heute die Achtziger selbst, die einfach nicht vergehen wollen.

Der Witz an „Serverland“ ist, dass der Roman sich darüber subtil und perfide lustig macht, genauso wie über die nai­ve Utopie aus der digitalen Steinzeit. Ich meine: YouTube-Videos! Die Kids in diesem Roman halten YouTube-Videos für ein subversives Mittel! Ein Mittel zur Revolution! Darauf muss man erst mal kommen. René Hamann

Josefine Rieks: „Serverland“. Hanser, München 2018, Seiten, 18 Euro

Weit entfernt von einer künstlichen Intelligenz

Die digitalisierte Welt produziert Unübersichtlichkeit. Manuela Lenzen widmet sich dem Thema der künstlichen Intelligenz (KI) und arbeitet technische und soziale Grundlagen, positive wie negative Aspekte dieser schönen neuen Welt systematisch heraus. Ihr Befund: Während wir von einer wahrhaftigen KI noch meilenweit entfernt sind, verrät die Beschäftigung mit ihr viel über uns selbst und die Blackbox der Psyche. Doch zunächst blickt die Autorin auf die Funktionsweise der präsentesten Form maschineller Intelligenz: den Algorithmus. Algorithmen sind formalisierte Problemlösungsprozesse, wie etwa das schriftliche Dividieren. Diese streng logische Herangehensweise identifiziert Lenzen als das ursprüngliche Bestreben der KI-Forschung: Ein bestimmtes Ziel, z. B. das Fliegen, soll ohne eine unnötig komplizierte Imitation der Natur – z. B. den Flügelschlag – erreicht werden. Heute werden Algorithmen überall genutzt: Sie verarbeiten riesige Datenmengen, verbessern die Produktion und lernen dabei immer weiter dazu. Die selbstlernenden Systeme der Zukunft sollen in der Lage sein, präzise Prognosen zu liefern, und unter anderem bei der Kriminalitätsvorsorge oder einer vernünftigen Planung der Weltwirtschaft eingesetzt werden.

Allerdings stoßen rein datengetriebene Systeme längst an Grenzen. Die Autorin zitiert neuere Erkenntnisse der Robotik, die belegen, dass sich Intelligenz nicht allein virtuell verwirklichen lässt. Ein unbesiegbarer Schachcomputer oder ein besonders versierter Chatbot seien eben noch lange keine KI im eigentlichen, kognitiven Sinne – auch wenn man das, siehe Turing-Test, lange angenommen habe. Stattdessen sei ein verkörpertes System notwendig, das seine Intelligenz, statt auf wenige spezialisierte Felder getrimmt zu sein, allgemein und möglicherweise gar in Echtzeit erwerben muss. „Zahnpasta auf die Zahnbürste zu geben“, so Lenzen, „ist für eine KI eine viel größere Herausforderung, als auf Großmeister-Niveau Schach zu spielen.“ Heute arbeiten KI-Forscher eng mit Biologen und Entwicklungspsychologen zusammen und zeigen sich verblüfft über die Vielseitigkeit natürlicher Systeme.

Der zweite Teil des Buches verhandelt soziale Konsequenzen künstlicher Intelligenz. Die Autorin beschreibt die häufig von diffusen Ängsten und vagen Hoffnungen geprägten Diskurse. Im gesellschaftlichen Umgang mit der KI gelte es, Fragen nach der Zukunft der Arbeit genauso in den Blick zu nehmen wie die nach der Haftbarkeit autonomer Maschinen oder nach der Besonderheit des „Menschlichen“. Dabei geht es der Philosophin um eine möglichst ganzheitliche Antwort. Denn ohne Frage wird die KI unser Leben von Grund auf verändern. Doch die Auseinandersetzung mit ihr bietet, so Lenzen, die Möglichkeit einer neuen Ethik und einer alternativen Wirtschaftsweise. Frederic Jage-Bowler

Manuela Lenzen: „Künstliche Intelligenz. Was sie kann und was uns erwartet“. C. H. Beck, München 2018, 272 S., 16,95 Euro

Leistung ist Selbstmord und Emanzipation

Ohne sie geht es nicht. Leistung wird in Schulen, im Job, ja sogar in unseren Beziehungen verlangt. Wir messen uns fortwährend mit anderen, und niemand wird behaupten können, nicht schon mal unter dem allgegenwärtigen Leistungsdruck gelitten zu haben. Wie konnte es so weit kommen?

Nina Verheyen spürt dem Phänomen in ihrem Buch „Die Erfindung der Leistung“ nach. Von der Definition des Strebers bis zur Einnahme von Crystal Meth im Zweiten Weltkrieg. Ganz die Historikerin, bewegt sich Verheyen in ihrem Essay vor allem zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert. Zwei Jahrhunderte, in denen sich der Leistungsbegriff stets veränderte. Frauenbewegungen, sportliche Weltrekorde oder die Industrialisierung zieht die Autorin heran, geht dabei allerdings nicht chronologisch vor. Sondern verbindet die Ereignisse und Anekdoten so intelligent, dass man wenig Mühe hat, ihren Zeitsprüngen zu folgen.

Dabei ist „Die Erfindung der Leistung“ keine Kapitalismuskritik und versteht sich auch nicht als Lob auf die Leistung. Viel zu unterschiedlich und abwechslungsreich wählt Nina Verheyen ihre Blickwinkel. So zum Beispiel den von Goethe, der selbst gerne das Bild von sich als Naturtalent befeuerte. Während seinen jungen Werther der Liebeskummer plagt, hatten die SchülerInnen um 1900 Leistungskummer. Die ansteigende Zahl von „Schülerselbstmorden“ in den Dekaden um die Jahrhundertwende wurde auch literarisch in Dramen und Erzählungen aufgegriffen.

Einen positiven Effekt der Leistung betonte hingegen 1915 die Frauenrechtlerin Lily Braun. Sie sprach sich für einen Krieg aus, würde doch der Staat so die Fähigkeiten der Frauen brauchen und erkennen.

Die Arbeitsleistung von Frauen und Männern bekam mit Henry Ford und der eingeführten Fließbandarbeit eine neue Bedeutung. Allerdings mussten Unternehmer wie er einsehen, dass die Produktivität mit Senkung der Arbeitszeit anstieg. Leistungsmessung hatte somit tatsächlich positive Folgen für die FabrikarbeiterInnen.

In der Gegenwart – zwischen Leistungsgesellschaft und Leistungskritik – wird für Entlohnung, Aufmerksamkeit, Anerkennung oder für andere geleistet. Daher ist eine Auszeit im heimischen Garten bestimmt wohl verdient. Doch diesen Garten, in den sich eine Hängematte spannen lässt, so die Autorin, muss man sich eben auch erst mal leisten können. Verena Krippner

Nina Verheyen: „Die Erfindung der Leistung“. Hanser Berlin 2018, 256 S., 23 Euro

Dompfaffen, Kaninchen, alte und kranke Kühe

Der Herausgeber des Regensburger Punk-Fanzines Marionett und Autor von „Verschwende deine Jugend“ Jürgen Teipel hat zwischen Südtirol und Chile 32 Leute besucht, die auf dem Land leben und ihm eine Geschichte aus dem Zusammenleben mit einem ihrer Tiere erzählt haben. Auf so ein schönes Buch habe ich lange gewartet.

Zwar haben Tierbücher wie in der Nachkriegszeit wieder Konjunktur, aber fast immer erschöpfen sie sich diesmal in Artwissen, wenn die Tiere darin nicht sowieso nur am Rande von Menschenumtrieben vorkommen. Der Biologe Josef Reichholf äußerte über diese Vorstellungen von Tieren: „Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern. Das machte sie austauschbar und normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘, aus dem die ‚artgerechte Haltung‘ abgeleitet wurde. Das ist falsch. Tiere müssen zu Individuen mit besonderen Eigenheiten werden.“

Um solche Individuen handelt es sich durchweg bei den „Wahren Geschichten von Tieren und Menschen“. Es sind von Empathie getragene Langzeitstudien, wobei einige der Tiere keine lange Lebenszeit haben: Dompfaffen, Kaninchen, Hunde, alte und kranke Kühe. Deswegen enden viele Geschichten quasi naturnotwendig mit dem Tod des jeweiligen Tieres. Weil man sich bis dahin aber mit dem Tiere identifiziert hat, wird man kapitelweise sentimental eingestimmt, ohne dass das wohl von den Erzählern und von Teipel beabsichtigt war, eher das Gegenteil, vielleicht so wie es der Verhaltensforscher Konrad Lorenz einmal sagte: „Von meinen Barschen im Aquarium habe ich mehr gelernt als in meinem ganzen Studium.“

Die da über die Lebensgeschichten erzählten, könnte man in der Mehrzahl als ­semiprofessionelle Tierhalter bezeichnen: Reittherapeutinnen, Tierfilmer, Gnadenhof-Betreiber, Hobby-Imker, eine Beschäftigungstherapeutin für Menschenaffen in Gefangenschaft, einer, der als Erzieher mit verhaltensauffälligen Kindern und Eseln im Planwagen herumzog, usw. Helmut Höge

Jürgen Teipel: „Unsere unbekannte Familie. Wahre Geschichten von Tieren und Menschen“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 285 S., 18 Euro