Maßlos in Ekstase und Einsamkeit

Das Theater in der Washingtonallee ehrt mit zweisprachigen Rezitationen die russische Dichterin Marina Zwetajewa

In einigen Facetten erinnert Zwetajewas Vita an den Ödipus-Mythos. An die Geschichte jenes griechischen Helden, der dem prophezeiten Schicksal durch Flucht zu entkommen suchte und es gerade deshalb erlitt. Auch religiöse Lehrtexte aller Zeiten kennen Geschichten vom Tod, den man in der Stadt trifft, in die man sich zwecks Flucht zurückgezogen hatte.

Abgesehen davon scheinen manche Ären allerdings ganz besonders geeignet zu sein, Menschen die Zwecklosigkeit jedweder Anpassung an die Umstände aufzuzeigen, ohne dass den Nachgeborenen hierzu eine plausible Erklärung einfiele: Kompromisslos lebte und schrieb die Russin Marina Zwetajewa (1892–1941), der das hiesige Theater in der Washingtonallee jetzt einen Abend widmet, zeit ihres Lebens. Entschlossen verweigerte sich Zwetajewa der Vereinnahmung durch die damals dominanten Symbolisten. Eigensinnig lebte sie – parallel zu ihrer Ehe mit dem Offizier Sergej Efron– Affären mit anderen Männern und Frauen.

„Der Vesuv lässt sich durch Reben nicht bezähmen! Nicht mit Flachs fesselt man Riesen!“ hat sie in einem ihrer Gedichte geschrieben. Sie selbst hat sich in diesen Zeilen sicherlich wiedergefunden, obwohl in ihrem Fall eher die politischen Umstände der „unbezähmbare Riese“ waren, war ihr Leben doch geprägt durch etliche Trennungen von ihren Familienangehörigen. Fluchten nach Berlin, Prag, Paris und zurück in die Sowjetunion folgen; Armut, oft auch Isolation waren stetige Konstanten.

Zwischen alle Fronten geriet Zwetajewa zum Beispiel, als man ihr in französischen Exiliertenkreisen nicht glaubte, dass sie von der Spionagetätigkeit ihres Mannes für die Sowjets nichts gewusst hatte; zu Unrecht verdächtigte man sie – auch angesichts ihrer angeblich zu unpointierten Verurteilung des Stalinismus – der Komplizenschaft.

Doch auch die Rückkehr 1939 in die Sowjetunion brachte keine Linderung: Abermals war sie als Ex-Exilierte verdächtig; keine Hilfe kam von etlichen inzwischen arrivierten Schriftstellerkollegen, als sie am Rand des Hungertodes balancierte. Dabei möchte man sie fast als unpolitisch bezeichnen – jene Autorin, die früh Französisch und Deutsch gelernt hatte und infolge der Lungenkrankheit ihrer Mutter während ihrer Kindheit zu häufigen Umzügen gezwungen war.

Schockiert war die Literatin im Vorfeld der Oktoberrevolution zum Beispiel von der Wut der Menschen auf die „bourgeosen Blutsauger“, entsetzt über den Hass, den sie in Vorstadtzügen mit anhören musste und später in ihre Texte flocht. Eine Frau, deren extreme Persönlichkeit auf ein extremes Schicksal traf. Sie war anscheinend nicht ganz kompatibel mit dieser Welt, frei aber auch von der Bereitschaft, es um jeden Preis zu werden: „Sie war vollkommen eigensinnig. Sie brauchte Ekstase nicht nur in der Liebe, sondern auch im Verlassenwerden, in der Einsamkeit, im Unglück“, schrieb Nadeschda Mandelstam. Als kämpferische Frau hat sie Boris Pasternak, mit dem sie in regem geistigen Austausch stand, beschrieben. „In ihrem Leben und ihrem Werk drängte sie ungestüm, gierig und fast raubtierhaft nach Endgültgkeit und Unbedingtheit, wagte sehr viel und ließ alle andern hinter sich zurück.“

Eigenschaften, die – zynisch gesprochen – fast zwanghaft zu ihrem so extremen Leben passen, das sie am 31. August 1941 in Armut in der Tatarischen autonomen Republik, wohin sie angesichts des Einmarschs der Deutschen in die Sowjetunion umgesiedelt worden war, selbst beendete. Im selben Monat wurde ohne ihr Wissen ihr Mann, der während der Revolution in der Weißen Armee gegen die Kommunisten gekämpft hatte, erschossen.

Und wenn sich auch fremdes Leben und Empfinden schwer deuten lässt, war es angesichts der zahlreichen Schläge – im russischen Kinderheim war ihre Tochter Irina 1919 an Unterernährung gestorben – vielleicht tatsächlich die persönlichen Leidenschaften, die sie in harten Zeiten lebendig hielten. Eine Facette, der sich nicht nur der im Mai im Theater in der Washingtonallee präsentierte erst Zwetajewa-Abend „Mit der Freundin“ widmete, sondern auch der jetzige zweite Teil, „Mit dem Liebsten“ genannt.

Thema des von Oleg Weimer und Angelika Landwehr gestalteteten Gesangs- und Rezitationsabends wird das Poem vom Berg sein, in dem sie ihre Prager Liebesbeziehung zu dem ehemaligen Offizier Konstantin Rosdewitsch verarbeitet und das zwischen 1924 und 1939 entstand.

„Wir werden an diesem Abend rund 60 Quadratmeter Stoff auf der Bühne haben, der zum Berg drapiert ist – ein Berg, auf Stoff geschrieben sozusagen“, sagt Landwehr. „Den Berg verstehen wir als Parabel für die Leidenschaft zu Rosdewitsch, wohingegen das ,rote Pferd‘, ein anderes häufiges Motiv, die Zerstörung von Seelen und Häusern symbolisiert.“

Den wichtigsten Lebensstationen Zwetajewas werden die SchauspielerInnen an diesem Abend folgen, werden auch aus Tagebuch-Aufzeichnungen lesen und die „Zueignung“ zum Poem vom Berg rezitieren. Und dann gibt es da noch die Schattenseite: jenes laut Landwehr „unpoetisch-pragmatische Vorstadt-Gedicht, das die Slums von Paris beschreibt, in denen Zwetajewa selbst 14 Jahre lang leben musste. Ein Link zur für die Poetin schwer verkraftbaren Realität also, die sich für die von Emigrantenkreisen Isolierte nicht ausblenden ließ.

„Dein Schutzengel liebt dich nicht“, soll eine Wahrsagerin einmal zu Zwetajewa gesagt haben. Ob sie es geglaubt hat – man weiß es nicht. Aber fest stand für sie, für die auf diesem Globus und in dieser Zeit kein erträglicher Ort zu sein schien: Sie konnte nicht mehr leben.

Petra Schellen

„Marina Zwetajewa, Teil II: „Mit dem Liebsten“: Premiere: Fr, 9.9., 20 Uhr, Theater in der Washingtonallee. Weitere Vorstellung: Sa, 10.9. während der Theaternacht. Langer Theaterabend (Teil I und II): Sa, 1.10., 20 Uhr