1968
2018

Am Gründonnerstag vor 50 Jahren wurde auf Rudi Dutschke geschossen. Die Studentenbewegung. Der Vietnamkrieg. Die Ermordung Martin Luther Kings. Und die sexuelle Revolution … Was bedeutet uns die 68er-Bewegung heute noch? Drei junge Leute aus der taz.berlin-Redaktion geben Antwort

Mai 1968: Vom Bahnhof Zoo fährt ein Sonderzug, Ziel ist der „Marsch auf Bonn“ als Protest gegen die Notstandsgesetze Foto: Wolfgang Kunz

219a hat ganz viel mit den 68ern zu tun

Von Katharina Meyer zu Eppendorf

Wäre ich gerade schwanger, ich würde wahrscheinlich abtreiben. Ob ich es wirklich täte, weiß ich natürlich nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass es 2018 ist und ich mich als Frau sowohl für als auch gegen ein Kind entscheiden kann.

Das war bekanntermaßen nicht immer so: Abtreibung wurde in (West-)Deutschland erst 1974 legal. Es war ein Triumph für alle Frauen und ihre sexuelle Selbstbestimmung, die die 68er zum ersten Mal ernsthaft politisch eingefordert hatten. Mit ihrem Leben in Kommunen genauso wie mit ihren Forderungen auf der Straße.

Heute profitiere ich von dem, was die 68er damals erkämpften. Ich kann mit vielen Männern schlafen oder es lassen. Ich kann heiraten oder es lassen. Ich kann Kinder bekommen oder es lassen. Als jemand, der 1991 geboren ist, musste ich mich an diese Freiheiten noch nicht einmal gewöhnen. Sie waren einfach da.

Die Debatte über den Paragrafen 219a, der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, hat mir jüngst wieder gezeigt, wie privilegiert diese Einstellung ist – und wie selbstgerecht. In der Retrospektive ist es immer so einfach, Gleichberechtigung als etwas Normales und Selbstverständliches wahrzunehmen. Dabei ist genau das gefährlich: Wer vergisst, dass der Freiheit meist Kämpfe, Ausein­andersetzungen und Streitereien vorausgingen, setzt sie zu leicht aufs Spiel.

Das Jahr 1968 ist für mich deswegen vor allem ein Meilenstein, an dem wir uns selbst messen können. In meinem Fall bedeutet das, mich zu fragen: Was tue ich eigentlich für meine Freiheit?

Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in einem Interview sagte, dass Frauenrechtler:innen sich eher für Tiere als für menschliches Leben einsetzen würden, sagte eine Freundin: „Jetzt reicht es. Wir werden auf die Straße gehen müssen“. Am 8. März tat sie es, wie viele tausend andere Frauen. In der Hand hielt sie Plakate, auch gegen den Artikel 219a. Zwei Wochen später schrieb auf Twitter jemand: „Lebe so, dass Jens Spahn etwas dagegen hätte.“

Anfang der Woche zeigte sich Spahn nun immerhin „kompromissbereit“. Paragraf 219a ist damit noch längst nicht abgeschafft, der Kampf noch nicht gewonnen. Doch immerhin hat er wieder angefangen.

Die Autorin (26) zog nach sechs Jahren Marburg nach Hamburg, studierte Friedens- und Konfliktforschung, jetzt lernt sie Journalistik an der Henri-Nannen-Schule.

Damals wie heute gegen rechts

Von Daniel Stoecker

Die 68er-Bewegung steht für einen Generationenkonflikt. Nicht, dass aufseiten der jungen Linken nicht auch alte Linke standen. Doch die Studentenbewegung – eigenen Zielen zum Trotz nie gegendert – bestand vor allem aus den Jahrgängen kurz vor und nach Kriegsende. Es war die erste Generation junger Erwachsener, die sich nicht die Frage stellen musste: Wie konnten wir das zulassen? Ihre Forderungen richteten sich daher gegen das Veraltete.

Heute, 50 Jahre später, sind es genau diese konservativen Strukturen und faschistische Tendenzen, die wieder zurück in die Gesellschaft drängen. Sollten damals ehemalige Nazis aus ihren Ämtern verdrängt werden, sitzen heute offen rassistische Abgeordnete der größten parlamentarischen Oppositionspartei im deutschen Bundestag und in vielen Landesparlamenten, so auch im Berliner Abgeordnetenhaus.

Die Bewegung der Sechziger war eine solidarische mit internationalem Zusammenhalt. Heute marschieren wieder Menschen durch Städte, die Abschottung und Fremdenhass propagieren. Selbst eine der zentralen Forderungen von damals, die Stärkung der Frauenrechte, wird ins Gegenteil verkehrt, wie beim rassistischen Frauenmarsch der AfD im Februar.

Für uns scheinen die Errungenschaften der 68er so selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, dass junge Menschen in Schulen und am Arbeitsplatz, Studierende und Auszubildende dieses „Erbe der 68er“ – so abgedroschen diese Bezeichnung nach einem halben Jahrhundert klingen mag – als Verantwortung und Aufgabe verstehen.

Der rechte Frauenmarsch wurde von einem Vielfachen an Gegen­de­mon­strant*innen gestoppt – ein gutes Zeichen. Doch diese politische Haltung, gegen ein Zurück zu veralteten Strukturen, muss in eine gesellschaftliche Bewegung mit eigenen Ideen und klaren Forderungen fließen. Wir wollen uns später nicht fragen müssen: Wie konnten wir das zulassen. War 1968 gegen das Alte, muss 2018 gegen das Rückwärtsgewandte sein.

Der Autor (29) hat Medien- und Kulturwissenschaft in Düsseldorf und Berlin studiert. Nachhilfe in Sachen Protestbewegungen junger Menschen nahm er bei den Studentenprotesten in Chile, die er 2012 für seine Abschlussarbeit ein halbes Jahr lang begleitete.

Der revolutionäre Geist am OSI ist verflogen

Von Tasnim Rödder

Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke, Peter Schneider – sie alle waren Studenten an der Freien Universität (FU) zu Berlin. Dort fanden sich in den 68ern kritische Denker*innen zusammen, um sich gegen das Establishment im Elfenbeinturm zu wehren, gegen verstaubte Konventionen zu wettern und aus maoistischen Ideen Methoden zu entwickeln.

Das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften, liebevoll OSI genannt, spielte dabei eine tragende Rolle. Es galt der 68er-Bewegung als Ideen­schmiede für linkes politisches Gedankengut. Doch der revolutionäre Geist ist schon lange verflogen. So liegt die Beteiligung an den Wahlen der Studierendenparlamenten bei kümmerlichen 8 Prozent, und die Webseiten der wenigen Studi-Initiativen sind veraltet. Symbolisch für die eingeschlafene Widerständigkeit steht das Rote Café, ein studentisch besetztes und selbst verwaltetes Häuschen auf dem Campus, das heute wegen Asbest geschlossen ist. Früher schmissen hier die Studierenden wilde Partys, veranstalteten rote Sitzungen und organisierten politische Workshops. Damit ist es aus. Allein und verlassen, nackt umzäunt steht es jetzt da, auf der Wiese vor dem Institut. Keine Partys, keine Plena, keine studentisch besetzten Gebiete mehr auf dem Campus.

Klaus Roth ist ebenfalls ein Relikt der 68er. Der Professor für Politische Ideengeschichte ist der Einzige am OSI, der die Bewegung an der FU miterlebte – und nun als verschollen gilt. Seit gut einem Jahr hält Roth keine Vorlesungen mehr, und keine*r weiß, ob er jemals zurückkehren wird. Worüber sich vermutlich jedoch keine*r aufregt, weil seine Lehrmethoden alles andere als revolutionär waren.

Doch was bedeutet das alles für uns heute? Es braucht neuen Mut, Kollektivität und Esprit unter Studierenden, um den aufmüpfigen Geist der 68er an den Universitäten erneut zum Leben zu erwecken. Es gibt genug Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Ein Fünkchen Hoffnung bleibt: Immerhin gehört es für jede*n OSIaner*in zur guten Manier, etwa auf der Frauen­kampfdemo zu erscheinen – doch die kritische Masse ist noch lange nicht erreicht.

Die Autorin (23) ist vor fünf Jahren nach Berlin gezogen. Ihr Interesse gilt weniger der Politikwissenschaft als ihrer journalistischen Arbeit, u. a. für Missy Magazine, ze.tt und als Teil der Chefredaktion des Indiemagazins transform.

Mit Manfred Prütz auf den Spuren der 68er-Bewegung: 44,