Marsch nach Ankara

427 Kilometer stehen für den Geist der türkischen 68er. Sie wollen „Atatürks Revolution“ vollenden und werden bei Kilometer 15 das erste Mal gestoppt

Von Volkan Ağar

Eine kleine Kreuzberger Erdgeschosswohnung, ein Buch liegt aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Die Seiten sind vergilbt. Das Kapitel auf Seite 314 hat den Titel „Auf deinen Spuren für die nationale Befreiung im Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus“. Es ist das Tagebuch eines Protestmarschs, der von der Revolutionären Studentenvereinigung DÖB und anderen Gruppen organisiert wurde.

Das Buch liegt vor Demir Küçükaydın. Der 68-Jährige schenkt Tee ein, sagt, er habe sich mit der Lektüre auf das Gespräch vorbereiten wollen. Eigentlich hat „68“ in der Türkei schon Monate vor diesem Marsch begonnen, mit Unibesetzungen für bessere Studienbedingungen. Neben Küçükaydın gehört auch der berühmte Studentenführer Deniz Gezmiş zu den 24 Studenten, die im Oktober 1968 beschließen, von Samsun an der Schwarzmeerküste nach Ankara zu marschieren: 427 Kilometer in zwölf Tagen. „Mustafa-Kemal-Marsch für eine gänzlich unabhängige Türkei“ nennen sie das Ganze. In Samsun begann Atatürk den Türkischen Befreiungskrieg.

Die sozialistischen Studierenden wollen die Revolution des Staatsgründers weiterführen. Die Unabhängigkeit, für die Atatürk kämpfte, sehen sie durch „amerikanischen Imperialismus“ und feudale Kräfte bedroht.

Küçükaydın erzählt aufgeregt, manchmal wehmütig, von seinen Studententagen, als er tagsüber als Buchhalter arbeitet, um sich das Soziologiestudium abends leisten zu können. Es habe ihn belastet, dass er zuerst keine Zeit für seinen Aktivismus fand: „Ich wollte Revolutionär werden.“ Der Berufswunsch erfüllt sich: In Çınaraltı, auf Deutsch Unter der Platane, einem Teegarten in der Nähe der Istanbuler Universität, sitzen eines Tages ein paar ältere Studenten, darunter Deniz Gezmiş. Sie erzählen Küçükaydın vom Marsch für die Unabhängigkeit. Er sagt sofort zu.

Die Gruppe reist nach Samsun. Bevor der Marsch losgeht, hält sie vor einem Atatürk-Monument eine Schweigeminute ab. In Ankara wollen die Demonstranten die Grabstätte von Atatürk besuchen und anschließend ein „antiimperialistisches Meeting“ organisieren. Nach 15 Kilometern werden sie festgenommen. Und kommen am nächsten Tag wieder frei – weil einer von ihnen den Richter überzeugt, indem er sagt: „Hier werden nicht wir vor Gericht gestellt, sondern der Veteran Mustafa Kemal.“

Sie schlafen in Räumen der Lehrergewerkschaft TÖS oder bei Dorfbewohnern. „Wir haben versucht, den Leuten auf dem Land zu erklären, wieso sie arm sind“, sagt Küçükaydın. Er lacht, als fände er heute naiv, was sie damals getan haben. Im Tagebuch steht: „Diese Menschen, die kein Radio und keine Zeitung kennen, waren in Freude darüber, neue und wahre Dinge zu lernen.“

17 Kilometer vor dem Ziel entscheidet ein Komitee, den Marsch zu beenden, was innerhalb der Gruppe umstritten ist, die inzwischen mehr als 200 Leute umfasst. Die Presse, die den Protestmarsch bislang ignoriert hat, schreibt, die Studenten wollten Ärger machen. Es kursieren Gerüchte über Reaktionäre, die den Marsch angreifen wollen. Manche haben Angst, für einen Putsch instrumentalisiert zu werden.

„Aus dieser Gruppe gingen später die wichtigsten Persönlichkeiten der revolutionären Gruppe Dev Genç hervor“, sagt Küçükaydın. Manche der Teilnehmer des Marsches bewaffnen sich, gehen in den Untergrund und sterben. So wie Deniz Gezmiş, der mit anderen vier amerikanische Soldaten entführt, sie freilässt, später gehängt und zur Ikone der türkischen Linken wird. Küçükaydın sitzt zehn Jahre in Haft. Danach flüchtet er nach Frankreich und zieht später nach Deutschland, wo er als Taxifahrer arbeitet und Bücher schreibt.

Bereut er etwas? Küçükaydın überlegt nicht lange: „Vielleicht privat, aber nicht politisch“, sagt er. Er würde wieder Revolutionär werden. „Ich habe immer gedacht: Ich will nicht reich werden, aber es soll auch keine Armut geben.“ Kücükaydin lacht, wieder etwas wehmütig.