Der Tanz der sich verkleinernden Möglichkeiten

KONZERT Ein kontrastreiches Diven-Duo: Little Annie & Baby Dee begeisterten ihr Publikum im Roten Salon der Volksbühne

Ein Bruchteil einer Sekunde Stille. Die letzten Töne verklingen, Little Annie steht da, ganz ruhig, gerade hat sie noch voller Inbrunst gesungen: „We gotta get out of here / we got something left to lose“. Jetzt hat sie den Kopf leicht geneigt, die großen glänzenden Augen aufgerissen und lauscht, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Erstaunen und Erschrecken: Was hat sie da wieder angerichtet? Wir müssen hier raus, wir haben noch etwas zu verlieren. Hat sie sich ein Stück zu viel entblößt, indem sie alles – ihre ganze Zerbrechlichkeit und ihre ganze Stimmgewalt – in diesen Song gelegt hat? Hat das Publikum ihre Leidenschaft überhaupt bemerkt? Dann Erleichterung, ein Strahlen auf ihrem Gesicht: Die ZuhörerInnen springen von den Sofas und vom Boden des Roten Salons der Volksbühne auf, klatschen, jubeln, Standing Ovations. Little Annie hat es wieder geschafft.

Die Sängerin, Malerin und Schauspielerin humpelt von der Bühne, ihr rechter Fuß will nicht mehr so recht, sie stützt sich auf einen Stock. Ihr folgt Baby Dee, massig, die blond gefärbten Haare hochgesteckt, im immer wieder gekonnt verrutschenden roten Tüllkleid und schwarzen Stöckelschuhen. Eine knappe Stunde hatte sie zuvor Little Annie am Flügel begleitet – ein Diven-Duo und eingespieltes Team. Zwei, die sich nichts mehr zu beweisen brauchen. Da macht es auch nichts, dass Little Annie schon beim zweiten Song den Text vergessen hat.

Während der Lieder sieht man eine singende und tanzende Annie, die hechelt, haucht und schreit, alle Register ihrer Stimme zieht. Zwischen den Songs sieht man eine wankende und nuschelnde Annie, die sich – einen großen Plastikbecher mit ein paar Fingerbreit Kognac in der Hand – manchmal kaum auf den Beinen halten zu können scheint. Dazu plappert sie mit Vorliebe, kommt von einer kruden Geschichte zur nächsten, bis sie von Baby Dee subtil darauf hingewiesen wird, dass es weitergeht: „Are you ready to do that fucking song, Annie?“

Dieser Kontrast macht die Spannung des Konzerts aus: Man ist jedes Mal aufs Neue erstaunt, was Annie aus sich herausholt, wie sie alles Leid und alle Schwierigkeiten vergisst, wenn sie singt. Gleichzeitig hat man jedes Mal aufs Neue Angst, sie würde gleich zusammenbrechen, von der Bühne stürzen, wenn sie wieder still ist.

Leichtigkeit am Flügel

Und Baby Dee? Die hat alles im Griff. Dee, ehemalige Kirchenchorleiterin, Baumpflegerin und Harfenistin von Antony and the Johnsons, begleitet Annies Mischung aus Jazz- und Cabaret-Gesang mit angenehmer Leichtigkeit am Flügel. Dazu setzt sie, die im April schon auf der Großen Bühne aufgetreten war, hier und da einen Akzent mit dezentem Background-Gesang. Auf souveräne Art bereitet sie erst die Bühne, auf der Annie erscheint und ihren „Dance of Diminishing Possibilities“ – so ein durchaus selbstironisch gemeinter Songtitel – aufführt.

Sie singt größtenteils eigene Songs, aber auch einen von einem großen Kollegen aus Michigan: „How about a nice Stevie Wonder song?“, fragt Annie. „Oh, now you gotta think about something real sad – how about that last number we played?“, gibt Dee spitz zurück. So amüsieren sich alle prächtig. „Worst things have happened to Berlin than us“, sagt Dee an einer Stelle. Wohl wahr – man darf auf das gemeinsame Album der beiden gespannt sein.

ELIAS KREUZMAIR