„Kindesmisshandlung ist eine Konstruktion“

KINDERSCHUTZ Nach dem Tod des Kindes Kevin hat der Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff über zwei Jahre 450 Bremer Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe fortgebildet. Um Kinder zu schützen, soll das Hilfesystem stärker als Partner der Familien auftreten

ist Professor für Sozialarbeit und -pädagogik an der Alice Salomon Hochschule Berlin.F: Niko Wolff

INTERVIEW VON ANNA GRAS

taz: Herr Wolff, Sie sind Soziologe und Erziehungswissenschaftler. Wie sind Sie zu Ihrem Schwerpunkt Kinderschutz gekommen?

Reinhart Wolff: Das war eine Selbstrettung. Indem wir die Gewalt thematisiert haben, sind wir nicht umgekommen.

Wie meinen Sie das?

Ich war sehr aktiv in der Studentenbewegung und auch in radikale Proteste involviert. Jan-Carl Raspe war mein Diplomand. Als das anfing, in Terrorismus zu kippen, wurde mir klar, dass tatsächlich über Leichen gegangen wird. Das ist mir sehr nahe gekommen. Die Gewaltfrage wurde in der Studentenbewegung ja stark thematisiert – aber immer als die Gewalt der anderen, nicht als die eigene. Eher unbewusst bin ich dann auf das Thema Gewalt gegen Kinder gekommen.

Worum ging es Ihnen dabei?

Um die Frage nach einem Jenseits der Gewalt. Wir haben von Gewalt gegen Kinder als gesellschaftliches Phänomen gesprochen und uns von der damals vorherrschenden medizinischen Perspektive abgesetzt. Uns war klar, dass wir das thematisieren und selbst Alternativen entwickeln müssen. Denn von dieser Gesellschaft – die sich dem Völkermord und dem faschistischen System nicht stellen wollte – konnte man nichts erwarten. Insofern waren antiautoritäre Konzepte wie die Kinderläden auch Selbsthilfe-Projekte.

Heute werden Sie – wie hier in Bremen nach dem Tod von Kevin – quasi vom Staat gerufen, um Jugendamtsmitarbeiter fortzubilden. Wie war die Situation, als Sie Ihre Arbeit 2007 aufgenommen haben?

Es gab eine große Verunsicherung, viel Angst und einen hohen Druck. Mit dieser Kinderschutz-Katastrophe ist eine große Welle der Empörung über Bremen geschwappt. Alle haben mit dem Finger auf diese schrecklichen sozialen Dienste hier gezeigt. Als Sozialarbeiter sollte man gewissermaßen garantieren, dass ein solcher Fall nicht noch einmal geschieht.

Kann man das überhaupt?

Nein, totale Überwachung ist gar nicht möglich. Dazu müsste man alle Familien mit einem Netz von Fernsehkameras überwachen – und das ist Totalitarismus.

Was waren die Schwachstellen in der Kinder- und Jugendhilfe?

Vor allem spielte eine Rolle: Viele Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste und der freien Träger kannten sich zu Beginn der Fortbildungen gar nicht. Es gab keinen Ort der geschützten Reflexion und des Austauschs über Schwierigkeiten im Umgang mit diesen sehr konfliktreichen, deklassierten und marginalisierten Familien. Man war mit seiner Angst im Prinzip ganz alleine.

Was hat das Bremer Qualifizierungsprogramm da bewirkt?

Wir haben gemeinsam den „Bremer Qualitätsstandard Zusammenarbeit“ (BQZ) entwickelt. Das ist ein Verfahrensvorschlag, wie in der Kinder- und Jugendhilfe zusammen gearbeitet und die Qualität gesichert werden kann. Es ging aber auch darum, neu zu verstehen, was Kindesmisshandlung überhaupt ist.

Das heißt?

Kindesmisshandlung ist keine einfache Tatsache, sondern eine Konstruktion. Sie ist eine Beobachtung, die an bestimmte Deutungen mit fachlichen und normativ-rechtlichen Standards gekoppelt ist. Die Familien selbst deuten natürlich auch und schätzen ihre Lage ein – allerdings unterscheiden sich die Versionen.

Inwiefern?

Ein Sozialarbeiter sagt beispielsweise, es gibt Konflikte mit ihrem Kind, wir nennen das Misshandlung. Die Eltern aber sagen vielleicht, wir nennen das Erziehung. Moderne Hilfesysteme tragen bestimmte Versionen von Wirklichkeit an die Familien heran. Glauben sie, dass ihre Version einer Kindeswohlgefährdung zutrifft, ergreifen sie Maßnahmen, um das Kind zu schützen. Das ist aber hoch kontrovers.

Wieso?

Die Eltern ängstigen sich, dass ihnen das Kind weggenommen wird oder dass sie bestraft werden. In ihrer sozialen Lage haben sie große Angst vor sozial höher stehenden Fachleuten und dem Staat im Besonderen. Es ging bei der Qualifizierung also immer auch um grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Bürgern und Staat, von Eltern, Kindern und den Hilfesystemen. Deshalb sollte man die Systeme auch so gestalten, dass man ihre Dienste gerne und freiwillig annimmt.

Wie ist das möglich?

Etwa dadurch, dass man eine andere Konzeption stark macht, nämlich Familien und Kinder tatsächlich zu unterstützen. Wir müssen moderne Professions-Systeme demokratisieren, also zu bürgernahen Einrichtungen machen. Das wäre faktisch eine Revolution.

Wie weit ist Bremen schon revolutioniert?

Das Kinder- und Jugendhilfesystem ist dabei, sich neu aufzustellen. Eine Neustrukturierung und programmatische Umorientierung braucht immer auch materielle, personelle und organisatorische Ressourcen. Man hat nach Kevins Tod viel ausgebessert und investiert, trotz der Finanzlage Bremens. Und die beste Antwort auf einen fatalen Kindeswohl-Fall gewählt: Man versteht sich als lernendes System und setzt noch einmal neu an.

Das sollte von innen kommen?

Wichtig ist, dass nichts von oben eingesetzt wird. Bremen hat eine lange Geschichte von externen Beratungen – bei denen von außen neue Konzepte in die sozialen Dienste gedrückt wurden, wie das eng geführte Case-Management-System. Bei den Mitarbeitern hat das zu einer regelrechten Verstörung geführt.

Wieso?

Die an der Basis, also die aufsuchenden Sozialarbeiter, waren in Bremen mit einer hierarchischen Struktur konfrontiert: Auf verschiedenen Ebenen wurde versucht, zu kontrollieren und zu verregeln. Zugleich sind sie mit hilfebedürftigen Familien konfrontiert, die oft schwer zugänglich und von Abwehrmauern umgeben sind. Trotzdem müssen Sozialarbeiter äußerst komplexe Konflikte in kürzester Zeit erfassen – und dies in einer bürokratisierten Form festhalten. Dann entwickeln sich verschiedenste Formen des Widerstands: Man unterläuft etwa Regeln, wartet ab, erfüllt Voraussetzungen nur pro forma. Je bürokratischer und festgelegter ein System ist, desto eher geht es vor die Wand.

Ist diese Einschätzung in Bremen mehrheitsfähig?

Ja, die Fachbasis hat angefangen, darüber nachzudenken. Ständig Formblätter ausfüllen zu müssen, behindert den realen Kontakt und eine flexible Hilfe.

Was ist statt Formalia wichtig?

Gerade am Anfang braucht es viel beraterische Kompetenz und Zeit. Die allererste Aufgabe ist, die Familien mit ihren Problemen in Kontakt zu bringen und dann eine Hilfe vorzuschlagen. Erst wenn der Hilfe zugestimmt wird, sollte ein freier Träger damit beauftragt werden.

Das bedeutet mehr Kooperation mit den Eltern.

Ja. Wer Kinder schützen will, muss auch Eltern schützen. Problemfamilien sind häufig fragmentierte Familien. Oft gibt es nicht zwei verantwortliche Elternteile, sondern Eltern, die ihre Rolle noch gar nicht angenommen oder begriffen haben. Zudem haben sich Armutslagen verschärft. Wir haben mehr arme, deklassierte Familie, die keine Chancen im Bildungs- und Wirtschaftssystem haben und politisch nicht vertreten werden.

Mit einem Maßnahmenpaket zur Kindeswohlsicherung reagierte Bremen auf den Tod des zweijährigen Kevin im Jahr 2006. Dazu zählt auch die Qualifizierung der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe.

■ Der „Bremer Qualitätsstandard Zusammenarbeit“ (BQZ), den Reinhart Wolff und Bremer Fachkräfte entwickelt haben, wird bei einer Bremer Kinderschutzkonferenz am 11. November vorgestellt.

■ Bremen ist zudem eine von 12 Modellkommunen des Bundesprojekts „Aus Fehlern lernen“, Teil des Kinderschutz-Programms „Frühe Hilfen“ des Bundesfamilienministeriums. Schwerin, wo Wolff in Folge des Falles Lea-Sophie tätig ist, ist ebenfalls Modellkommune.

Ist Bremen da noch mal ein besonderer Krisenherd?

In allen deutschen Großstädten gibt es inzwischen Viertel, in die Ärmere gedrängt werden. Auch in Bremen gibt es davon eine Reihe. Dort ist es schwer, Kinder zu schützen und zu fördern.

Wie kann man das trotzdem?

Indem man etwa die Kindertageserziehung systematisch ausbaut und in Hilfen investiert. Auch die sozialen Dienste sollte man stärker öffnen. Das haben wir im BQZ mit dem Motto „wir schützen Kinder gemeinsam und gern“ aufgenommen. Dieses Motto verdeutlicht eine ganz neue Perspektive und ein neues Bewusstsein: Man stellt in den Mittelpunkt, dass man gemeinsam arbeitet – innerhalb des Hilfesystems wie auch im Kontakt mit den Familien – und sich nicht gegenseitig bekämpft.

Ist das nicht selbstverständlich?

Nein. Die Jugendämter haben eine lange Geschichte autoritärer Eingriffe von oben nach unten, der Kontrolle von marginalisierten Gesellschaftsgruppen. Von Gemeinsamkeit war da keine Spur. Dass im BQZ die Zusammenarbeit mit der Familie als primäre Aufgabe festgelegt ist, ist angesichts dessen eine Revolution. Zuvor stand die Rettung des Kindes vor den Eltern im Mittelpunkt.

Und nun werden zudem noch die Eltern gerettet?

Ja. Dadurch können Kinder häufiger bei den Eltern aufwachsen. Nach außerfamilialen Hilfen zur Erziehung ist es so eher möglich, Kinder in ihre Herkunftsfamilien zurück zu geben.

Das heißt aber auch, Verständnis für die Eltern zu entwickeln. Wie ist das möglich, wenn man mit Familien arbeitet, in denen ein Kind misshandelt wurde?

Das steckt man nicht einfach weg, sondern entwickelt oft aggressive Tendenzen gegenüber denjenigen, von denen man meint, sie seien dafür verantwortlich. Man muss lernen, sich zu kontrollieren und nicht zu emotional zu reagieren. Dazu braucht man Unterstützung. Man muss über den eigenen Kummer sprechen können und gleichzeitig eine neue Haltung gegenüber denen finden, die mit ihren Kindern so verzweifelt gescheitert sind. Die meisten Fachkräfte haben diese Möglichkeit aber gar nicht.

Wie gehen Sie selbst damit um? Sie werden wie hier in Bremen meist im Nachhinein gerufen, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist.

Mir hilft ein theoretischer Verständnisrahmen, nicht zu stark zu reagieren. Zudem ist es unterstützend, sich klar zu machen, dass Kinder Hilfen trotz aller widrigen Umstände nutzen können. Kinder sind ja nicht nur Opfer. Sie haben vielmehr selbst große Kräfte, die im Hilfeprozess genutzt werden können.