Hier regiert das Wir-Gefühl

Das Fußballspektakel „Hinter euren Zäunen“ im Thalia Gaußstraße gibt unterhaltsame Einblicke ins Fan-Sein

Die Fans in der hinteren Reihe grölen: „Hier regiert der HSV!“ Ebenso stolz wie aggressiv geht es weiter: „Wir gehen dreimal täglich in den Puff!“ Ein Song jagt den nächsten, das Personal hat Mühe, das Rauchverbot durchzusetzen. Nein, diese Szene spielt nicht in der AOL Arena, sondern auf der Tribüne des Thalia in der Gaußstraße. Echte HSV-Fans saßen am vergangenen Freitag im Publikum beim Spektakel Hinter euren Zäunen, drehten wie gewohnt auf, und wurden so ungewollt zu einem Teil des Stücks.

Ihre Kumpels, elf weitere Fans, stehen bei Hinter euren Zäunen auf der Bühne und spielen ihren eigenen Alltag: Holsten, Transparente, Fäkaliensprüche und der Aufbau eines gemeinsamen Feindbildes: die gegnerischen Fans. Sie fahren nach auswärts: Wolfsburg, Wattenscheid, Bayern München. Ausgestattet mit lautem Wir-Bekenntnis und der Lust auf Konfrontation – mit den Feinden, mit der Polizei.

Die angedeutete Stadiontribüne, eine schräge, plane Fläche, rennen sie hinauf, schlittern herunter, ziehen im Polonaisezug rundherum, und das mit vollem Einsatz, erstaunlicher Bühnenpräsenz und erfrischend selbstironisch. Mehrere Monate lang hat der Journalist Christoph Twickel die Gruppe im echten Fanleben begleitet und daraus einen dichten Theaterstoff entwickelt. Regisseur Martin Kreidt hat mit den LaienschauspielerInnen daraus wiederum kurze, rasante Szenen entwickelt, harte Übergänge – eine Ästhetik wie im Musikfernsehen.

Zwischendurch tauchen die Altstars Günter Netzer (Stephan Schad) und Franz Beckenbauer (Jan Schütte) auf, erkennbar an den entsprechenden Perücken. Sie beginnen, das Ereignis Fußball zu vermarkten, die „Gefühle zu ökonomisieren“, wie sie sagen. Die Eintrittspreise steigen, der Fan an sich wird gebeutelt. Die Aggression steigt – auch im Publikum.

Und das ist das Spannende: Diese Inszenierung führt vor, wie Identifizierung funktioniert. Die Aggression, die Begeisterung, das Wir-Gefühl: Das alles rufen die Stückmacher ab wie auf Knopfdruck. Katrin Jäger

weitere Vorstellung: heute, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße