Pisa? Lernen ist Lust auf Leben

Der Kongress „Erziehung und Bildung von Anfang an“ plädiert für ein alltagsorientiertes, lebenslanges Lernen

Annelie Keil, emeritierte Professorin für Sozial- und Gesundheitswissenschaften, ist eine der Organisatorinnen des Kongresses „Erziehung und Bildung“. Wir fragten sie, worum es geht.

taz: Warum sind Sie Kritikerin der PISA-Studie?Annelie Keil: Wir können elementare Leistungen unserer Kinder nicht an Statistiken ablesen. Studien wie Pisa und Iglu sind zwar notwendig, damit wir uns um Bildung und Erziehung mehr kümmern. Die anschließenden Diskussionen verlaufen aber kurzsichtig. Viele Bildungsmaßnahmen zielen nun auf möglichst effiziente, schnelle, vor allem kognitiv messbare Erfolge ab, die im Sinne der Studien sind. Vielmehr sollten wir auch danach fragen, was Kinder emotional und sozial zum lebenslangen Lernen motiviert.

Was denken Sie ist das? Wesentliche Motivation zum Lernen ist und bleibt bis ins hohe Alter die Neugier und Lust auf Leben. Neu geborene Menschen werden müssen das Leben erst lernen. Atmen, fühlen und begreifen gehören dazu. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen. Auch wenn Menschen sterben müssen sie das Sterben lernen.

Das Lernen ist in jedem Menschen angelegt? Im Grunde sind Kinder neugierige Eroberer. Die Neugier ist die Lust auf Eigenentdeckung, aber auch die Frage danach, wie man das Leben mit den anderen teilen kann. Wenn Kinder jedoch das Gefühl haben, dass die Welt schon unter anderen aufgeteilt ist, dann kann es sein, dass sie passiv oder gar depressiv werden.

Wie können Pädagogen Kindern Vertrauen vermitteln? Kinder brauchen Beziehungen in ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch Vertrauen in öffentliche Beziehungen. Wenn die Eltern dieses Vertrauen nicht geben können, dann können Lehrer und Erzieher einspringen. Außerdem brauchen Kinder die Hoffnung, dass sie selbst und zusammen mit anderen das Leben gestalten können. Dann werden sie als Jugendliche und Erwachsene widerstandsfähiger und resistent gegenüber fundamentalistischen Positionen.

Worauf müssen wir also achten, wenn wir die Leistung der Kinder bewerten? Wir müssen ihre Leistungen individuell und als eine Art Lebensleistung bewerten. Die Pisa-Studie geht nicht darauf ein, dass einige Kinder vielleicht schlecht deutsch sprechen, aber in ihren Migrantenfamilien die gesamte Lebensorganisation übernehmen. Sie sprechen dann zwar unsere Sprache nicht gut, lernen im Alltag aber trotzdem existenzielle Dinge. Diese emotionalen und sozialen Leistungen müssen wir beachten, denn es geht um einen solchen Lebensbezug beim Lernen. Kinder lernen schließlich nicht für die Schule.

Wie kann der Unterricht einen solchen Lebensbezug herstellen? Es gibt in unseren Kindertageseinrichtungen und Schulen viele gute Beispiele. So können Erzieher die Bremer Stadtmusikanten von den Kindern in ihrer jeweiligen Sprache erzählen lassen – auf Deutsch, Türkisch oder Chinesisch. Jedes andere Kind kann dann nachfühlen, wie es ist, Geschichten in einer Sprache zu hören, die es nicht versteht. Das schafft Verständnis für ausländische Mitschüler und weckt das Interesse an anderen Sprachen und Kulturen.

Was folgern Sie daraus für die öffentliche Erziehung von Kindern? Wir müssen uns mit dem einzelnen Kind individuell beschäftigen und ihm helfen, sich auf seine Weise zu entwickeln. Bildung und Unterricht müssen danach fragen, welche Fähigkeiten Menschen brauchen, um Leben zu verstehen. Das Leben muss Gegenstand des Lernens sein.

Interview: Saskia Richter