„Es geht um Menschenleben“

INTERVIEW DOMINIC JOHNSON
UND HANNES KOCH

taz: Frau Wieczorek-Zeul, was werden Sie nach dem 18. September machen?

Heidemarie Wieczorek-Zeul: Ich hoffe, und dafür kämpfe ich auch, dass ich als Ministerin die Entwicklungszusammenarbeit weiter gestalten kann.

Auch unter einer Kanzlerin Merkel?

Ach Quatsch!

Wenn es eine große Koalition gäbe?

Es geht darum, ob wir es in der Konstellation SPD-Bündnis90/Grüne schaffen. Dafür kämpfe ich und für nichts sonst.

Was ist das Wichtigste, was Sie als Ministerin erreicht haben?

Es hat zwei zentrale Strukturentscheidungen gegeben. Einmal die Entschuldung der ärmsten hochverschuldeten Entwicklungsländer – erst 1999 im Umfang von 70 Milliarden Dollar, jetzt nochmal mit potenziell 55 Milliarden – gekoppelt mit Armutsbekämpfung, Stärkung der Zivilgesellschaft und der Beseitigung der Strukturanpassungsprogramme, die vorher die Entwicklungsländer ärmer gemacht haben. Das ist ein Paradigmenwechsel. Die Auswirkungen sieht man in Ländern wie Tansania, wo statt 800.000 jetzt 1,6 Millionen Kinder in die Schule gehen. Die zweite strukturelle Entscheidung ist die Festlegung eines Stufenplans zur Erhöhung der Entwicklungszusammenarbeit. Alle Vorväter haben immer das Ziel betont, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, aber nie einen Zeitplan festgelegt. Das haben wir jetzt verbindlich vereinbart. Bis 2015 werden wir 0,7 Prozent erreichen. Ohne Festlegung findet da nichts statt. Das ist das Problem bei der CDU/CSU: Die sagen, wir wollen auch das 0,7-Prozent-Ziel, aber irgendwann, wenn der Haushalt und die Wirtschaft es gestatten. Das heißt, sie würden so weitermachen wie früher, als sie den Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit in den 90er-Jahren immer weiter gekürzt haben.

In der Realität wird es natürlich auch bei Ihnen so aussehen: Wenn das Geld nicht da ist, ist es nicht da.

Wir haben uns in der EU im Geleitzug festgelegt. Das habe ich durchgekämpft, und davon kommt niemand runter!

Aber beim G-8-Gipfel in Gleneagles dieses Jahr stand Deutschland nicht an vorderster Front. Es gab große Skepsis aus Ihrem Ministerium gegen die Vorschläge von Tony Blair und seiner Afrika-Kommission, es wurde auch öffentlich Stimmung dagegen gemacht.

Mir und dem Entwicklungsministerium lag am meisten daran, dass Gleneagles ein Erfolg wird, und es war mir völlig klar, dass es einen Beschluss zum Schuldenerlass geben würde. Und zu behaupten, afrikanische Länder hätten nicht die Möglichkeit zur Absorption höherer Entwicklungshilfe, ist völliger Unsinn, den die Weltbank eindeutig widerlegt hat.

Das mit der Absorption hat aber Ihre Staatssekretärin Uschi Eid gesagt.

Aber was zählt, ist das Ergebnis. Letztendlich geht es darum, dass mehr Mittel mobilisiert werden. In welcher Form, da bin ich ganz undogmatisch.

Welche Form würden Sie denn vorschlagen?

Zum Beispiel Haushaltssteigerungen. Wir haben ja Haushaltssteigerungen beschlossen.

Aber die reichen nicht aus für die Erreichung der Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut.

Für 2006 sind deutliche Haushaltssteigerungen festgelegt, wie schon das letzte Mal, und zwar um 5,8 Prozent. Dazu kommt fortgesetzte Entschuldung der ärmsten Länder. Und danach muss es auch darum gehen, innovative Finanzierungsansätze zu prüfen.

Frankreich will ab nächstes Jahr eine Flugticketabgabe einführen. Finden Sie so was sinnvoll?

Die EU-Finanzminister beraten ja über diese Frage. Aber es ist jetzt Zeit, die Diskussion so zu führen, dass auch Ergebnisse kommen. Wir hatten 2001 eine Studie zur Frage der Devisentransaktionen in Auftrag gegeben, die zeigt, dass es technisch machbar ist, daraus Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren. Nun muss sich die internationale Gemeinschaft auf ein oder zwei dieser Ansätze einigen. Und ohne eine sozialdemokratisch geführte Regierung wird es in dieser Frage keine Fortschritte geben. Die Frage ist: Was ist die Zukunft von Entwicklungszusammenarbeit in der globalisierten Welt? Gibt es künftig einen Rückfall in die Bedeutungslosigkeit, indem Entwicklungszusammenarbeit anderen Interessen untergeordnet wird, oder gibt’s eine Regierung, ein BMZ, eine Ministerin, die in den Fragen der Globalisierung entsprechend agiert und handelt?

Es gibt zwischen den Bundesministerien da durchaus Probleme. Zum Beispiel treiben Sie die Entschuldung der Demokratischen Republik Kongo voran und geben Entwicklungsmittel wieder frei, und zugleich will das Bundeswirtschaftsministerium 70 Millionen Euro Schulden von vor 15 Jahren eintreiben.

Das ist ein etwas undurchsichtiges Kapitel. Wir waren dagegen, kommerzielle Schulden einer kongolesischen Firma einzutreiben, weil wir prinzipiell meinen, bei hochverschuldeten ärmsten Entwicklungsländern sollte das nicht praktiziert werden. Das sind Entscheidungen anderer Ministerien, die auf 2002 zurückgehen. Man muss aber fairerweise auch sagen, dass die Haltung der kongolesischen Regierung und der betroffenen Firma etwas undurchsichtig ist, denn die Firma zahlt an andere Gläubiger zurück, und es ist keineswegs klar, wofür ihre Einkommen eigentlich verwendet werden. Es gibt zudem, sagt das Auswärtige Amt, das Angebot, auch auf Regelungen mit günstigen Konditionen einzugehen. Das ist aber von der kongolesischen Seite bisher abgelehnt worden.

Ein anderer Fall: Hungerhilfe in Niger. Ihr Ministerium stellt Gelder bereit, das Auswärtige Amt auch. Manche sagen, es geht vor allem um Nothilfe, andere sagen, es geht vor allem ums Langfristige. Wieso muss die Hilfe in zwei Strängen laufen?

Es ist einfach so: Die humanitäre Hilfe ist im Auswärtigen Amt verankert. Wir sind für Nothilfe zuständig. Aber die sachliche Zusammenarbeit, in einem Krisenstab, funktioniert sehr gut. Ich finde, es ist egal, wo das Geld herkommt, Hauptsache, die Mittel stehen zur Verfügung, damit keine Kinder sterben müssen.

Sie halten das also für eine sinnvolle Struktur?

Ich kann mir auch sinnvollere Strukturen vorstellen. Die Frage ist nur: Ist die jetzige Struktur effizient? Und sie ist effizient, um Menschenleben zu retten.

Sind Sie dafür, dass es einen ständigen Nothilfefonds bei der UNO gibt, damit die UN-Organisationen nicht immer erst bei Regierungen betteln müssen, bevor sie etwas tun können?

Das halte ich für richtig. Wir würden wahrscheinlich in Konflikt mit dem deutschen Haushaltsrecht geraten, aber wenn es um die schnelle Rettung von Menschenleben geht, muss auch das deutsche Haushaltsrecht ein Einsehen haben.

In wenigen Wochen findet in New York der „Weltgipfel“ der UNO statt, bei dem es unter anderem um eine Bestätigung der Millenniumsziele der UNO zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 geht. Sind diese Ziele rechtzeitig umsetzbar?

Wenn es gelingt, wirklich Mittel zu mobilisieren und die Staaten zu stärken, deren Regierungen selber zu Fortschritten bereit sind, bin ich sicher, dass es besser gelingt.

Nun sieht es aber so aus, als wenn der Gipfel ein großer Reinfall würde …

… ein Bolton-Fall!

Wie muss es dann weitergehen?

Die Konferenz hat einen Vorteil: Sie wirkt schon im Vorfeld. Ohne diesen Termin hätte es keine Festlegung der EU auf die Steigerung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit gegeben, hätte es die Beschlüsse von Gleneagles nicht gegeben. Aber was ich wirklich für hochgefährlich halte, ist, dass jetzt in der Schlussphase der Gipfelvorbereitung die US-Regierung den Versuch macht, die Festlegung auf die Millenniumsziele wieder in Frage zu stellen, die Festlegung auf mehr Finanzmittel in der Entwicklungszusammenarbeit streichen zu wollen, alle Forderungen im Zusammenhang mit atomarer Abrüstung auch der Atomwaffenstaaten streichen zu wollen, und insgesamt Vorschläge macht, die alle darauf abgestellt sind, die UN zu schwächen. Das darf sich die internationale Gemeinschaft nicht gefallen lassen. Man hat das Gefühl, dass hier gepokert wird, und das ist wirklich unakzeptabel angesichts der Tatsache, dass jeden Tag 30.000 Kinder an Krankheiten sterben, die wir verhindern können.

Wie gehen Sie damit um?

Ich bin dafür, dass wir bei den Festlegungen bleiben und in der Sache nicht nachgeben. Es gibt im Moment eine Verhandlungsgruppe, die darüber spricht. Sie soll bis zum 6. September einen neuen Text vorlegen, und danach muss man sich entsprechend positionieren. Ich werde am 14. September in New York sein, und im Vorfeld muss man sich mit anderen verbünden. Es ist auch eine Frage der Selbstachtung der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen.

Würden Sie versuchen, den Gipfel zu retten, indem Sie einen windelweichen Beschluss unterzeichnen?

Was heißt retten? Es geht nicht um die Rettung des Gipfels, sondern um die Rettung von Menschenleben.