Aerobic für Europa

Nimmt Politik Einfluss auf Tanz, ist Tanzen politisch? Die Gruppe Bodytalk interpretiert diese Fragen im Dock 11 spielerisch

Von Linda Gerner

Dass bei diesem Stück die körperliche Unversehrtheit aller Beteiligten garantiert ist, sollte vielleicht dazugesagt werden. Als Zuschauende kann man da Zweifel bekommen. Es wird gekrabbelt und geknebelt, ausgepeitscht und geschubst. Dazwischen gibt es Zärtlichkeit, aber bestimmend ist die Wut. Konkret wird es selten.

Im stickigen, langen Tanzstudio des Dock 11 findet man sich auf einer lokalen SPD-Wahlkampfveranstaltung wieder. Wolfgang Ressmann will ins Europaparlament einziehen und ist auf Stimmenfang. Hände werden geschüttelt, Personen angetanzt, es wird geküsst, sich auf den Schoß gesetzt. Ein lokaler Politiker schafft Publikumsnähe, zumindest, wenn er sich sechs lächelnde Tänzer*innen zur Unterstützung mitbringt. Diese singen inbrünstig „The Politics of Dancing“ von der britischen Band Re-Flex und nutzen Fußknöchel aus dem Publikum als Ankerpunkte ihrer Tanzbewegungen. So weit, so schrill, so gewöhnungsbedürftig.

Wolfgang Ressmann, tatsächlich SPD-Lokalpolitiker in Rheinland-Pfalz, darf nach der tänzerischen Einlage auch ein paar Worte verlieren. Kreisförmig tigert er am Publikum vorbei, hält eine glühende Rede auf Europa, und es stellt sich in kürzester Zeit der Politiker-Wahlkampfeffekt ein: Niemand hört zu, es wird lediglich registriert, dass jemand redet.

Gegründet haben die politische Tanzgruppe Bodytalk Yoshiko Waki und Rolf Baumgart im Jahr 2008. In einer früheren Produktion arbeitete Waki bereits mit Wolfgang Ressmann zusammen. Irritierende, aufrüttelnde Darbietungen, häufig im öffentlichen Raum und unter Einbeziehung der lokalen Personen und Gegebenheiten sind das Metier von Bodytalk. In „Politics of Dancing“ stehen mehrheitlich ausgebildete Tänzer*innen und Schauspieler*innen auf der Bühne, doch die Gruppe hinterfragt auch: Wie sollte der ideale Tänzer aussehen? Haben die Zuschauenden eine Definition?

Zwischen Kritik an absurden Castings, Sexismus in der Tanzbranche und der prekären finanziellen Situation von Künstler*innen versucht die Gruppe immer wieder den Bogen zur Verantwortung der Politik zu schlagen. Einfluss nehme die Politik etwa durch Kulturförderungen, auch hinter dieser Produktion steht eine finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern. Doch kann auch Tanz die Politik verändern?

Eine in Bewegung und Lautstärke aggressive Szene zeigt vor allem, wo die körperliche Bewegung ihre Grenzen hat: „Tanz gegen den Klimawandel, Tanz für Mülltrennung, Tanz für mehr Frauen in Führungspositionen“ wird geschrien und steht im schönen Kontrast zu Wolfgang Ressmanns warmen Worten: „Die Sprache des Tanzens ist international und repräsentiert die positive Seite der Globalisierung.“

Die Tanzperformance „Politics of Dancing“ sei ein „Experiment“, beschreibt die Gruppe. Es interessiere sie, weil sie nicht wüssten, „was dabei herauskommt“. Nach einem Streifzug durch sämtliche gesellschaftliche Probleme und Diskussionen, viel nackter Haut und einem interessanten Mix von Tanzstilen – Aerobic, Modern Dance, Ballett – weiß das im Publikum auch niemand: „Ich kann nicht mehr folgen“, sagt ein Zuschauer bei einer der vielen interaktiven Momente des Stücks. Ein Satz, der den inhaltlich überladenen Abend zusammenfasst.